Mannheim. Frau Spagerer, sind Sie abergläubisch?
Karla Spagerer: Nein. Obwohl … mein erster Sohn wurde am Donnerstag, den 12., geboren. Da war ich froh, dass er nicht einen Tag später gekommen ist (lacht). Aber sonst bin ich nicht abergläubisch.
Würden Sie also heute schon meine Glückwünsche zu Ihrem 95. Geburtstag an diesem Sonntag entgegennehmen?
Spagerer: Nein, das geht nicht. Das bringt Unglück (lacht).
Dann lassen wir das lieber. Wenn Sie auf die letzten 94 Jahre zurückblicken. Welche Erinnerungen sind für Sie am prägendsten?
Spagerer: Meine ersten Erinnerungen stammen aus der Zeit vor dem Krieg. Meine Großmutter war Kommunistin. 1936 hat die Gestapo sie geholt und ins Untersuchungsgefängnis im Mannheimer Schloss gebracht. Nur sehr wenige wissen heute, dass die Nazis den rechten Flügel des Schlosses umfunktioniert haben. Meine Großmutter wurde zu 18 Monaten Zuchthaus verurteilt. 18 Monate ohne Großmutter ist für ein kleines Mädchen eine lange Zeit. Ich erinnere mich aber auch daran, wie ich nach dem Krieg Walter kennengelernt habe: In der Kneipe von meinen Eltern, in der ich gearbeitet habe. Ich habe Liebe auf den ersten Blick erlebt - bloß er hat erst nichts gespürt (lacht). Irgendwann haben wir dann beide Schmetterlinge im Bauch gehabt. Am prägendsten aber war die Nazizeit.
Was ist Ihnen von dieser Zeit am meisten in Erinnerung?
Spagerer: An Schulen erzähle ich oft, wie ich mit meiner Freundin abends beizeiten immer in den Bunker gegangen bin. Morgens mussten wir ja in die Schule - wenn das möglich war. Ich erinnere mich an Abende, an denen es, wie jetzt um die Jahreszeit, früh dunkel geworden ist. Wir sind auf dem Weg in den Bunker gewesen. Plötzlich hat meine Freundin gesagt: ,Du, Karla, es wird gar nicht dunkel. Es wird ja immer heller.’ Das waren die Christbäume. Die werde ich nie vergessen.
Trägerin des Bundesverdienstkreuz
- Karla Spagerer wurde am 27. Oktober 1929 in Mannheim geboren. 1947 heiratete sie Walter Spagerer. Die Ehe hielt bis zu dessen Tod am 20. Februar 2016.
- Walter Spagerer saß für die SPD von 1972 bis 1988 im Landtag. Er engagierte sich für den SV Waldhof. Die Haupttribüne des Benz-Stadions trägt seinen Namen.
- Auch Karla Spagerer ist dem SV Waldhof eng verbunden. Die Sozialdemokratin war 2022 außerdem ältestes Mitglied der Bundesversammlung, die den Bundespräsidenten wählt.
- Seit 2018 tritt Spagerer als Zeitzeugin öffentlich vor allem an Schulen auf. 2022 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz. seko
Damit wurde der Himmel ausgeleuchtet
Spagerer: Genau. Die Engländer haben damit vom Himmel aus die Städte ausgeleuchtet. Das sah aus, als ob Christbäume am Himmel standen. Wenn man diese Christbäume gesehen hat, wusste man, man hat vielleicht noch zehn Minuten, bevor die Bomber kommen. Wir sind um unser Leben gerannt. Man hat alles vergessen und ist dann nur noch gerannt, um in den Bunker zu kommen.
Sie haben öffentlich viele Jahre über diese Zeit nicht gesprochen. Warum?
Spagerer: Ich habe darüber nicht gesprochen, weil ich gedacht habe, die Zeit kommt nicht mehr. Dass Menschen aus ihren Fehlern lernen. Seit es die AfD gibt, in der Rechtsextreme das Sagen haben, muss ich aber darüber sprechen. Thorsten Riehle hat mich 2018 ins Capitol eingeladen. Das war das erste Mal. Ein Mann - ich werde das nie vergessen - hat mir danach gesagt: ,Ihr Zeitzeugen werdet immer weniger. Ihr müsst sprechen.’ Ich möchte nicht, dass wir das erleben müssen, was meine Generation schon einmal erlebt hat. Ich erinnere mich aber auch noch sehr gut an die Zeit nach dem Krieg.
Ihr Vater war in russischer Kriegsgefangenschaft.
Spagerer: Er ist 1947 freigekommen. Da war er 45. Heute ist ein Mann mit 45 im besten Alter. Mein Vater war mit 45 ein alter, kranker Mann. Man kann sich auch nicht vorstellen, wie arm wir damals waren. Wir hatten nichts. Wir hatten keine Schuhe. Meine Mutter hat meine Füße in Zeitung eingewickelt und Schreiner haben eine Holzsohle drangemacht. Wenn ich das heute Mädchen erzähle, können die sich das nicht vorstellen. Heute habe ich viele Schuhe. Mit denen kann ich noch 120 werden. Holzsohlen brauche ich keine mehr (lacht). Mein Walter hat immer gesagt, dass ich einen Schuhtick habe. Das kommt aus dieser Zeit. Trotzdem hat es damals eine Aufbruchstimmung gegeben und wenn ich an die Nachkriegszeit zurückdenke, denke ich auch immer an das Gute.
Was machen Erlebnisse eines Weltkriegs und der Nachkriegszeit mit einem Menschen?
Spagerer: Wenn man als Kind in einer Diktatur und in einer Familie aufwächst, die verfolgt wird, ist man früh reif. Viel früher als heutzutage. Ich wünsche keinem Kind, dass es so früh reif wird wie ich und wie viele andere Kinder es in dem Alter waren. Ich habe Urenkel, die sind jetzt elf und 13. An einem zehnten Kindergeburtstag habe ich sie rumspielen sehen: sorglos und unbeschwert. In dem Moment habe ich meine ersten zehn Jahre Revue passieren lassen. Was meine Generation in den ersten zehn Jahren erlebt hat, wünsche ich keinem Kind. Kinder sollten keine Angst haben.
Obwohl Ihr Mann für die Mannheimer SPD eine große Bedeutung hatte, haben Sie viele Jahre gesagt, sich aus der Politik raushalten zu wollen. Trotzdem sind auch Sie schon 1969 in die SPD eingetreten. Warum?
Spagerer: Meine Großmutter ist durch Armut zur KPD gekommen. Man kann zu Kommunisten stehen wie man will: Aber das waren gute Gewerkschafter und sind das heute noch. Die hätten auch Walter gerne gehabt - der ist aber in die SPD. Ich wollte mit Politik nichts zu tun haben. Die hat so viel Elend über uns gebracht. Walter hat aber immer erzählt, wie das mit Betriebsrat und Gewerkschaften funktioniert. Ich fand das toll. Deshalb bin ich 1969 in die SPD. Nicht, weil Walter das wollte. Der hat mich nie gedrängt. Das war meine Entscheidung.
Sie sind seit 55 Jahren in der SPD. Auch mit über 90 Jahren unterstützen sie die SPD in Wahlkämpfen, sind politisch engagiert und interessiert. Wie steht es um die Politik in Deutschland?
Spagerer: Mir macht Politik wieder Angst. Ich habe nicht um mich Angst. Ich bin alt, ich habe alles erlebt. Ich habe um meine Kinder, meine Enkel, meine Urenkel Angst. Aber nicht nur um meine - sondern um alle in den Generationen.
Was macht Ihnen Angst?
Spagerer: Am Anfang nur die AfD. Jetzt ist noch Sarah Wagenknecht dazugekommen. Die ist nicht nur Kommunistin, die ist fast Stalinistin, die von einer Sowjetunion träumt, wie sie es früher gegeben hat. Und das Problem ist: Sie ist nicht dumm. Im Gegenteil. Das macht sie gefährlich. Und wissen Sie, was mir noch Angst macht?
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Sagen Sie es uns.
Spagerer: Als kleines Mädchen habe ich zwei Schwestern gekannt, die Inhaberinnen einer jüdischen Firma waren, für die mein Vater gearbeitet hat. Mein Vater hat ihnen immer gesagt, sie müssen weg. Raus aus Deutschland. Weg von den Nazis. Sie sind aber geblieben. Wir sind Mannheimer, uns passiert nichts, haben sie gesagt. Dann waren sie irgendwann weg. 2018 habe ich erfahren, dass sie nach Gurs deportiert wurden. 80 Jahre nach dem Holocaust habe ich erfahren, welchen Weg sie haben gehen müssen. Ich werde jedem Menschen sagen, dass ich zwei Frauen gekannt habe, Mannheimer Bürgerinnen, die ermordet wurden, weil sie Jüdinnen waren. Und ich werde jeden fragen: Wer hat das Recht, Menschen wegen ihrer Religion, Hautfarbe oder ihrer sexuellen Neigung auszugrenzen oder zu ermorden? Niemand. Gar niemand. Dass wir wieder Beauftragte gegen Antisemitismus brauchen - als ich das gelesen habe, war ich entsetzt. Wie weit sind wir? Deshalb erzähle ich an Schulen, was vor so vielen Jahrzehnten passiert ist. Das darf sich nicht wiederholen.
Wie interessiert sind Jugendliche an dem, was Sie erzählen?
Spagerer: Mit Stefan Fulst-Blei, dem Kreisvorsitzenden der Mannheimer SPD, habe ich viele Schulen besucht, am Donnerstag das Moll-Gymnasium. Jugendliche interessieren sich und hören zu. Spannend wird es, wenn sie Fragen stellen. Da merkt man, an welchen Schulen über das Thema gesprochen worden ist und an welchen nicht.
Im Moment wählen vor allem junge Menschen die AfD. Warum?
Spagerer: Das bereitet mir große Sorgen. Ich kenne mich mit Internet nicht aus. Aber ich habe inzwischen verstanden, dass die Parteien, auch meine SPD, da viel versäumt haben. Die haben das total verpasst. Nur die AfD hat verstanden, dass man mit diesem Instagram und TikTok junge Menschen bekommen kann. Ich begreife das nicht. Aber offenbar machen Soziale Medien viel aus.
Die AfD hat sogar eine Landtagswahl gewonnen. Welche Fehler hat die Politik gemacht - außer Instagram und TikTok zu verschlafen -, dass es eine Partei mit dem Rechtsextremisten Björn Höcke an der Spitze, demokratische Wahlen gewinnt?
Spagerer: Das frage ich mich auch.
Glauben Sie, dass das nur in ostdeutschen Ländern möglich ist?
Spagerer: Nein, das ist ja das Schlimme. Das könnte noch viel schlimmer kommen. Ich bin nicht mit allem einverstanden, was die Parteien in Berlin, auch meine SPD, machen. Aber wenn es jetzt Neuwahlen geben würde, würden wir uns auch im Westen die Augen reiben.
Was stört Sie an der SPD?
Spagerer: Das bespreche ich nur mit meiner Partei (lacht). Die AfD hat im Moment einen Sog, der gefährlich ist. Ich weiß nicht, was die Politik so verkehrt gemacht hat, dass so viele rechtsextremistisch wählen. Es muss bei allem Streit immer demokratische Alternativen geben. Vielleicht liegt es aber auch am Personal.
Sollte die SPD mit Olaf Scholz in den Wahlkampf gehen?
Spagerer: Ich bin nicht ganz überzeugt, dass das die richtige Entscheidung wäre. Ich schätze eigentlich Olafs ruhige Art. Die kommt aber eben nicht überall an. Er ist Hanseat - da haben wir Süddeutsche ein anderes Temperament (lacht).
Sie haben mal gesagt, der russische Überfall auf die Ukraine hätte in Ihnen Bilder hervorgerufen, „die ich längst vergessen glaubte“. Es ist immer noch Krieg und Deutschland, vor allem die SPD, diskutiert darüber, ob und mit welchen Waffen man die Ukraine weiter unterstützt. Was raten Sie Ihrer Partei?
Spagerer: Der Krieg zerreißt mich innerlich. Als er angefangen hat, habe ich geweint. Und jetzt stecke ich in einem Zwiespalt. Mein Leben lang habe ich ,Frieden schaffen ohne Waffen’ gesagt. Aber wie machen wir das? Wenn ich von Wagenknecht höre, man soll Diplomatie bemühen - wie soll das funktionieren, wenn Putin darauf nicht eingeht? Wagenknecht sagt das, weil es in ihre Agenda passt. Aber Friedrich Merz will, dass man der Ukraine Waffen liefern soll, die bis nach Russland reichen. Dann hätte Putin noch mehr Grund, den Krieg voranzutreiben. Aus dem Zwiespalt komme ich nicht raus.
Auch im Nahen Osten tobt ein Krieg, der vor allem in Gaza zehntausende Menschenleben fordert.
Spagerer: Ich leide mit allen Menschen. Nicht nur in der Ukraine, auch in Gaza. Es ist egal, welche Religion oder was auch immer diese Menschen haben. Es sind Menschen. Was diese Menschen erleben müssen, ist fürchterlich. Dass ein Krieg schlimm ist, weiß jeder. Aber was Krieg wirklich bedeutet, können nur die Menschen wissen, die einen Krieg auch erlebt haben - und meistens sind es die jungen, die das ausbaden müssen. Ich mache mir um die Ukraine und um den Nahen Osten große Sorgen. Aber ich habe keine Lösung.
Was bedeutet für Sie der Begriff ,Freiheit’?
Spagerer: Alles. An meinem Geburtstag singen wir ,Die Gedanken sind frei’. Freiheit ist unser höchstes Gut. Wenn ich jemanden höre, der sagt, in Deutschland kann man seine Meinung nicht sagen - das stimmt nicht. Wir sind eines der wenigen Länder, in denen man frei sprechen kann. Ich spreche nicht von Hetze. Das ist keine Meinung. Aber man darf in Deutschland seine Meinung frei äußern. Dafür sollten wir dankbar sein. Wir sollten dankbar dafür sein, dass wir leben dürfen wie wir wollen. Deshalb verstehe ich nicht, warum Menschen AfD wählen und diese Freiheit und Selbstbestimmung aufs Spiel setzen.
Sollte es ein Verbotsverfahren gegen die AfD geben - auch um die Partei von der Parteienfinanzierung auszuschließen?
Spagerer: Da bin ich skeptisch. Was bringt ein Verbot? Die Ansichten werden bleiben. Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, die AfD zu verbieten. Im Endeffekt wird ein Verbot der AfD und ihrem Gedankengut mehr helfen als es der Demokratie hilft.
Wie gewinnen die Parteien der Mitte Vertrauen zurück?
Spagerer: Wissen Sie, ich habe mir in letzter Zeit oft Gedanken über mein Leben gemacht. Am Anfang, als Kind, hatte ich oft Angst. Vor dem Krieg. Um meine Großmutter, die im Zuchthaus war. Um meinen Vater. Vor der Diktatur der Nazis. Heute lebe ich fast 80 Jahre lang in einer Demokratie. Ich weiß, dass auch eine Demokratie nicht perfekt ist. Aber an den Problemen kann man arbeiten. Ohne Angst. Dass ich jetzt, an meinem Lebensabend, wieder Angst um die Demokratie haben muss, hätte ich mir vor ein paar Jahren nicht vorstellen können. Deshalb appelliere ich an die Parteien in Berlin, auch an meine SPD: Hört endlich auf zu streiten. Hört auf, euch gegenseitig Schuld zuzuweisen. Zieht endlich an einem Strang. Und vor allem: Seid kompromissbereit. Kompromisse sind keine Schande. Ich war 68 Jahre mit meinem Walter verheiratet. Wir sind auch nicht immer einer Meinung gewesen (lacht). Aber wir waren bereit, Kompromisse einzugehen. Und den jungen Abgeordneten rate ich, Bücher zu lesen. Über die Weimarer Republik, über die Anfänge der Nazizeit. Das kann man nicht über TikTok oder Google lernen - sondern nur durch Bücher. Was man liest, das merkt man sich besser.
Gibt es eine Botschaft, die Sie zu ihrem 95. Geburtstag Mannheimerinnen und Mannheimern sagen möchten?
Spagerer: Seid wachsam. Passt auf. Denkt immer über die politischen Konsequenzen nach. Und denkt überhaupt über alles nach.
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