Mannheim. Fallschirmspringen ist seine große Leidenschaft gewesen“, blickt Iris Tusche zurück. Ihr Ehemann und Vater der beiden gemeinsamen Kinder war 30 Jahre alt, als er am 11. September 1982 bei den Internationalen Luftschiffertagen anlässlich des 375. Geburtstages der Stadt Mannheim in einen US-Hubschrauber stieg. Das mit der „Chinook“ geplante Training für den am Abend angepeilten Rekord im Formationsspringen als Zeichen der Völkerverständigung sollte als Todesflug enden. Gleich einem Stein fiel der Helikopter vom Himmel – und mit ihm 46 Männer und Frauen, vor allem Fallschirmspringer aus den Partnerstädten Toulon und Swansea, außerdem aus der Region, darunter der Bankangestellte Matthias Tusche. Den meisten der Absturzopfer waren weit weniger Jahre zum Leben vergönnt, als die Katastrophe inzwischen zurückliegt – 40 Jahre.
„Die Maschine ist heruntergefallen!“ Diese Schreckensnachricht erreichte Iris Tusche, als sie ein aufgelöster Springerkollege anrief. Weil die beiden Kinder damals noch klein waren – drei Jahre das Mädchen, elf Wochen der Junge – hatte die 26-jährige Mama darauf verzichtet, an dem Spätsommer-Samstag zum Flugplatz nach Neuostheim zu fahren.
Zwei Jahrzehnte später trafen wir sie in einer Eisdiele nahe Heidelberg. Noch einige Jahre zuvor, so sagte die Witwe damals, hätte sie ein Gespräch mit einer Journalistin und Augenzeugin der Katastrophe nicht ohne Weinkrämpfe führen können. Freimütig schilderte sie, nach dem Unglück vor allem funktioniert und sich an Rituale geklammert zu haben. „Ich trieb einen regelrechten Verehrungskult.“ Die Wohnung war nicht nur voll mit Fotos des Ehemannes – Iris Tusche ließ auch dessen Schuhe dort stehen, wo er sie abgestellt hatte. „Da durfte keiner drankommen – ich wäre ausgerastet.“ Ein Jahrzehnt bedurfte es, ehe sie eine Therapie begann.
„Unterstützung wurde mir nicht angeboten“
Anlässlich des 40. Jahrestages treffen wir sie erneut, diesmal am Neuostheimer Airport, erst im Restaurant, dann laufen wir zur Gedenkstele. „Ich habe mit dem Unglück weitgehend abgeschlossen“, erklärt die 66-Jährige. Gleichwohl blitzt im Gespräch auf, wie schwierig es war, das aufgezwungene Leben ohne den geliebten Partner zu akzeptieren. Iris Tusche, inzwischen dreifache Oma, erzählt voll Stolz von ihren längst erwachsenen Kindern: Die Tochter ist Intensivkrankenschwester, der Sohn wie der Papa in einer Bank tätig. Dass eine Mitarbeiterin des Jugendamtes kurz nach der Katastrophe auftauchte und signalisierte, die Kinder würden in behördliche Obhut genommen, wenn die Witwe mit der Situation nicht zurechtkomme, empört sie bis heute. „Unterstützung wurde mir nicht angeboten.“ Überhaupt bedauert Iris Tusche, dass es seinerzeit noch keine psychologischen Angebote gab wie inzwischen bei Katastrophen selbstverständlich. „Ohne meine Eltern wüsste ich nicht, wie ich alles geschafft hätte.“ Zu den schmerzlichen Erfahrungen gehört, „dass sich der einstige Freundeskreis von Matthias und mir zurückgezogen hat“.
„Was wäre wenn?“-Fragen geht Iris Tusche aus dem Weg. Gleichwohl drängen sie sich auf. Schließlich führen Zufälle gerade bei Katastrophen besonders häufig schicksalsträchtig Regie. Aber manchmal bewirken sie Glück im Unglück. Dass Leben und Tod nur ein paar Wimpernschläge beziehungsweise Meter voneinander entfernt liegen können, offenbarte die Absturzstelle, ein riesiger Krater auf dem Autobahnstück zwischen Mannheim und Heidelberg: Der Helikopter war in eine Lücke des Verkehrs gekracht. Dem Fahrer eines Transporters und zwei Autofahrern gelang nahe des Flammeninfernos der explodierten „Chinook“ eine Vollbremsung. Unvergessen jener blaue VW-Käfer, der wenige Meter vor dem Wrack zum Stehen gekommen war.
Absturzopfer aus vier Nationen
Den einstigen Mannheimer Verkehrsdirektor und Organisator des Stadtjubiläums, Klaus Büscher, trieben „Was wäre wenn?“-Fragen sein Leben lang um. Ohne schuldig zu sein, gab er sich die Schuld, dass er mit den Internationalen Luftschiffertagen Spektakuläres wollte – so bunt und fröhlich wie die über Mannheim schwebenden Ballons auf den verschickten Einladungskarten, die seine Frau, die Malerin Anita Büscher, gestaltet hatte. Als besondere Art der Solidarität mit den Absturzopfern machte der damals fast 50-Jährige den Flugschein und begann mit Fallschirmspringen. „Ich hatte einfach das Bedürfnis, den Verunglückten nahe zu sein, indem ich mit ihnen das Risiko teile“, erzählte er anlässlich des 25. Jahrestages.
Welch verschlungene Wege das Schicksal zu gehen vermag, davon kündet die Geschichte eines Fallschirmspringers aus Walldorf: Er saß schon in der „fliegenden Banane“, kletterte aber wieder heraus, weil seine Lebensgefährtin und Sportkameradin keinen Platz für den ersten Trainingsflug bekommen hatte. Sie erzählte dem „MM“ 20 Jahre später, dass noch immer im Ohr klinge, wie ihr Bernd gerufen hat: „Wenn meine Maus nicht springen darf, dann will ich auch nicht und nehme die nächste Maschine.“ Dass ein anderer an seiner Stelle in den Tod flog, habe ihm den Rest seines Lebens zu schaffen gemacht. Sieben Jahre später kam er in Österreich bei einem Fallschirmabsprung ums Leben.
Mehr als ein halbes Jahr sollte es dauern, ehe eine US-Expertenkommission gemeinsam mit der Staatsanwaltschaft den Untersuchungsbericht vorlegte. Bis heute fällt schwer zu begreifen: Es waren winzige Partikel von Walnussschalen als Teil des von der Herstellfirma Boeing empfohlenen Reinigungsöls, die sich in Schmierdüsen des Rotorgetriebes abgesetzt, den Ölfluss behindert und so eine Unwucht mit todbringender Folgekaskade ausgelöst hatten. In der Unglücksmaschine befanden sich neben dem US-Piloten und seiner Crew vor allem französische, aber auch britische und deutsche Fallschirmspringer, außerdem zwei Reporter des Senders AFN, American Forces Network. Eigentlich hatten auch Kameraleute des ZDF mitfliegen wollen – sie waren aber auf den nächsten Trainingsflug vertröstet worden.
Frage nach den Fallschirmen
Banalitäten sollten kurz vor dem mittäglichen Helikopterstart über Leben und Tod entscheiden: Eine junge Fallschirmspringerin aus Toulon war untröstlich, weil sie aufgrund fehlender Zielsprünge nicht zugelassen wurde – ein Vereinskamerad nahm ihren Platz ein. Weil das Sportlerteam aus Toulon gleich beim ersten Trainingsflug die Formation eines kreisförmigen Zusammenschlusses internationaler Springer in luftiger Höhe gemeinsam üben wollte, wurde nahezu die komplette Mannschaft der südfranzösischen Partnerstadt ausgelöscht. 23 Männer und Frauen, darunter auch Bruder und Schwester. Der Vater, selbst begeisterter Fallschirmspringer, hatte ansehen müssen, wie die „Chinook“ mit Sohn und Tochter an Bord zerschellte. Jahrelang sollte er sich an Gedenktagen gemeinsam mit deutschen Sportkameraden von einem Hubschrauber nahe des Mahnmals absetzen lassen und mit einer Fahne der „Union Mannheim-Toulon“ den vom britischen Künstler Michael Sandle aus dunklem Vulkangestein gestalteten Rotorblättern entgegen schweben.
Zu den Fragen, die bis heute umtreiben, gehört: Warum sind die Fallschirmsportler nicht abgesprungen? Wer damals den grausigen Absturzort gesehen hat, wird nie das Bild der verstümmelten und verkohlten Leichen mit den ungeöffneten Schirmen als bizarre Päckchen auf dem Rücken vergessen. Inzwischen gehen Experten davon aus, dass der erfahrene US-Pilot, der unaufgeregt angekündigt hatte, wieder an den Boden kommen zu wollen, gar nicht das Ausmaß der sich anbahnenden Katastrophe erkennen konnte. Ohnehin wird kontrovers diskutiert, ob die erreichte Höhe überhaupt zum Öffnen der Fallschirme ausgereicht hätte.
Als wir vor einigen Tagen die Gedenkstele am Rande des Neuostheimer Flugfeldes besuchen, ist Iris Tusche irritiert, dass die hochgewachsene Hecke das eigentlich öffentliche Mahnmal vor den Blicken verbirgt und obendrein Unkraut wuchert. Auch wenn sie das symbolträchtige Kunstwerk für gelungen hält, stört sie die auf den Boden verbannte Namenstafel, über die Ungeziefer krabbelt. Und dass bei ihrem Matthias ein „t“ im Vornamen vergessen wurde, empfindet sie als Ärgernis.
Am Sonntag jährt sich zum 40. Mal jener 11. September, an dem ein Hubschrauber mit 46 Männern und Frauen vom strahlend blauen Himmel fiel. Dann wird es außerdem 21 Jahre her sein, dass bei dem Terroranschlag auf das World Trade Center in New York knapp 3000 Menschen ihr Leben verloren und die Welt nicht mehr so war wie zuvor. Iris Tusche versucht am 11. September die Bilder der globalen Katastrophe von 2001 auszublenden: „Das wäre sonst alles zu viel.“ Hingegen hat die Mutter eines 1982 abgestürzten Fallschirmspringers zwei Jahrzehnte später im Gespräch mit dem „MM“ gesagt: „Als ich im Fernsehen die Zwillingstürme zusammenkrachen sah, dachte ich, jetzt geht mein schwarzer Tag, an dem ich meinen Sohn verloren habe, in die Geschichte ein.“
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