Mannheim. Auf der Straße unter dem Balkon, auf dem Alaa Al-Deri steht, fließt der Verkehr. Ein Lieferwagen folgt auf ein Auto. Roller kommen entgegen. „Die Läden da drüben haben auch wieder offen“, sagt Al-Deri und zeigt im Videocall mit ihrer Hand auf die gegenüberliegende Straßenseite. „Und da drüben war letzte Woche noch ein riesiger Müllberg. Die Menschen haben neuen Mut und neue Lebensfreude gefunden und haben die Straßen saubergemacht“, sagt die Frau in der syrischen Hauptstadt Damaskus.
Wenige Tage nachdem Milizen Baschar al-Assad gestürzt haben, sei das Land mit Leben erfüllt. „Die Menschen in Damaskus sind glücklich. Es fühlt sich so an, als …“, sagt sie und sucht nach Worten. „Es fühlt sich so an, als ob das Land wieder den Menschen gehört.“
Al-Deri wurde vor etwas mehr als 27 Jahren in Damaskus geboren. Im Kindergartenalter ist sie mit ihrer Familie nach Deutschland emigriert. Hier ist Al-Deri aufgewachsen und zur Schule gegangen. An der Universität Mannheim studiert sie Rechtswissenschaften, während ihre Eltern in Stuttgart wohnen.
Mannheimer Studentin: "Bin um 5 Uhr morgens wegen Schüssen aufgewacht"
Ihre Wurzeln in Syrien spielen für die Al-Deris eine große Rolle. In Damaskus gehört der Familie eine Wohnung, in der sie regelmäßig Urlaub macht. Ist sie in Deutschland, vermisse sie oft das Arabische, erzählt Alaa Al-Deri: die Gastfreundschaft, den Zusammenhalt, die großen Familien. Ist sie in Syrien fehlt ihr die deutsche Gründlichkeit, das Pünktliche, die vielen klaren Regeln. „Ich habe mehr als eine Heimat.“
Vor ein paar Tagen ist die 27-jährige gebürtige Syrerin wieder nach Damaskus geflogen, um sich dort für ihre baldige Hochzeit offizielle Dokumente ausstellen zu lassen. Al-Deri kommt am Abend vor der Revolution an. Fix und fertig von der Reise sei sie gewesen und könne über die Stimmung in der Stadt am Abend gar nicht viel sagen. „Am nächsten Morgen bin ich um 5 Uhr wegen Schüssen aufgewacht“, erzählt sie aber und spricht über große Angst. Schüsse sind in der Hauptstadt auch im Krieg kein Alltag. „Ich habe trotzdem zuerst an militärische Auseinandersetzungen gedacht."
Tränen der Freude und des Schmerzes
Sie täuscht sich. Das, was die angehende Volljuristin hört, sind zwar Patronen. Die aber werden nicht im Kampf auf Menschen, sondern aus Freude in die Luft geschossen. Schüsse um zum Feiern – „eigentlich ist das total verrückt“. Die 27-Jährige berichtet vom Jubel auf den Straßen von Damaskus. Von Menschen, die sich in Armen liegen. Vom Lachen. Von der Freude. Und von Tränen. Von Tränen der Erleichterung, aber auch des Schmerzes. „Die Menschen haben zum ersten Mal wieder Freiheit gespürt. Die Angst und die Wut, die sie so lange unterdrückt haben, haben sie freilassen können“, sagt sie. „Es war ein Gefühlschaos.“
Das erlebt auch Al-Deri. In der Metropole habe man die Stimmung greifen können, die sich verändert hat. „Obwohl die Freude groß war, hatte ich Angst, weil plötzlich so viele Menschen Waffen getragen haben.“ Erschreckend und furchteinflößend. „Ich bin in Deutschland aufgewachsen. Da gibt es keinen Platz für Waffen.“ Und sind die, die aus Gefängnissen befreit sind, wirklich nur Verfolgte, oder auch Mörder und andere Verbrecher? Fragen, die sich Al-Deri in den Tagen der Revolution stellt. „Es war ein Chaos. Bis man das verarbeitet hat, dauert es.“
Schöne Kindheitserinnerungen an Syrien - bis zu Beginn des Bürgerkriegs
Mehrfach bricht im Gespräch die Internetverbindung ab. Davor hatte Al-Deri bereits vor dem Call gewarnt. Davon abgesehen aber wirkt zumindest am Bildschirm die Atmosphäre in dem Zimmer angesichts der Umstände in dem Land auffallend ruhig.
Sie müsse ein wenig ausholen, antwortet Al-Deri auf die Frage, was sie bei der Nachricht von Assads Sturz gedacht habe. Als Kind sei sie jedes Jahr nach Syrien geflogen. Schöne Kindheits- und Jugenderinnerungen verbinde sie mit ihrem Geburtsland. 2011 aber bricht der Bürgerkrieg aus – just als die Familie in Damaskus ist. Die heute 27-Jährige berichtet von bewaffneten Gruppen und vom Chaos. Sie erinnert sich an die Toten, die sie gesehen habe. Mit deutschen Pässen kann die Familie schnell fliehen. Bis 2016 traut sie sich nicht mehr zurück.
Mannheimer Studentin: "Meine Güte, wie hat dieses Land überlebt?"
2016 sei das Land dann ein anderes gewesen. „Die Wunden des Kriegs waren überall sichtbar“, erinnert sie sich an Syrien, das sich nun durch Gegensätze definiert. Die Zerstörungen und der Krieg auf der einen Seite, der Zusammenhalt und eine den Umständen trotzende Gesellschaft auf der anderen. Im Schatten des Kriegs findet Al-Deri auch Restaurants, Musik, gutes Essen. „Ich habe mich oft gefragt: Mein Güte, wie hat dieses Land überlebt?“
Die Wirtschaft ist am Boden. Embargos treffen vor allem die Bevölkerung. „Die Lebensqualität ist gesunken, die Armut war sichtbar, die Stromversorgung katastrophal und der Schmerz für jeden, der Syrien vor 2011 gekannt hat, spürbar“, beschreibt Al-Deri. „In meinem Kopf hat sich das Bild von Syrien als Land mit einer Bevölkerung voll unerschütterlicher Resilienz und Überlebenswillen festgesetzt.“
Assad im pompösen Palast. während Bevölkerung leidet
Darüber, wie Assad lebt, weiß Al-Deri lange nicht viel. Das sei ihr erst jetzt, erst nach seiner Flucht wirklich klar geworden. Sie erfährt vom Sidnaya-Gefängnis, in dem Menschen metertief unter der Erde gefangen gefoltert werden. Und sie erfährt, „wie der Präsident in einem Palast in unvergleichbarem Luxus gelebt hat, während die Bevölkerung unter den extrem schlechten Bedingungen gelitten hat“. Die Bilder aus dem Palast, aus Assads Zimmern seien schwer zu ertragen. „Während er im Jacuzzi saß und von dort aus auf die Straße geschaut hat, sind da Autos stehengeblieben, weil es keinen Kraftstoff gab und die Inflation gestiegen und gestiegen ist“, sagt Al-Deri. „Das und der Umgang mit Verfolgten ist für mich der Inbegriff von Unbarmherzigkeit und Sadismus.“
Die Diktatur ist nun Geschichte. Und wie geht es weiter in ihrem Heimatland? Während etwa die Mannheimer Politikwissenschaftlerin Sabine Carey im Interview mit dieser Redaktion vor zu viel Optimismus gewarnt hatte, sind viele in Mannheim lebende Syrerinnen und Syrer zuversichtlich, dass das Land vor einer besseren Zukunft steht als es die Vergangenheit war. Auch Al-Deri.
Das Regime sei im negativen Sinne „einzigartig“ gewesen. Die syrische Bevölkerung wisse nun, dass sie sich wehren kann. „Es gibt so viele Menschen in Syrien, die in den letzten Jahren in Europa gelebt haben oder noch leben: Die wissen, was Menschenrechte sind, was es überhaupt bedeutet, Rechte zu haben, und was es heißt, von Freiheit zu sprechen.“
Der lange Weg zurück zur Normalität
Dass nur wenige Stunden nach Assads Sturz politische Stimmen in Deutschland die Abschiebung von Syrern gefordert haben, weil eine „politische Verfolgung“ nicht mehr gegeben sei, hat die Studentin enttäuscht. „Es wird noch lange dauern, bis Syrien wirtschaftlich stabil genug ist, um ein Leben in Würde zu ermöglichen“, sagt sie. „Deshalb würde ich es für richtig halten, denjenigen Syrern, die bereit sind, sich aktiv zu integrieren und sich an Regeln zu halten, die Chance zu geben, in Deutschland eine Perspektive zu finden und ihren Beitrag zu leisten.“
Ein paar Tage will Al-Deri noch in Damaskus bleiben. Weil sie selbst weder Folter noch andere Verbrechen selbst erlitten habe, könne sie die Gefühle vieler in ihrem ganzen Ausmaß nicht nachempfinden, sagt sie. „Aber ich will versuchen, mich in diese Menschen hinzuversetzen und mit ihnen zu sprechen. Diesen Augenblick haben wir uns jahrelang erträumt. Hier wird Geschichte geschrieben und ich bin mittendrin.“
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim_artikel,-mannheim-mannheimer-studentin-erlebt-assads-sturz-in-syrien-_arid,2271271.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.dehttps://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim_artikel,-mannheim-mannheimer-politologin-voraussetzungen-in-syrien-sind-schwierig-_arid,2269498.html
[2] https://www.mannheimer-morgen.dehttps://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim_artikel,-mannheim-nach-assads-sturz-syrer-in-mannheim-erzaehlen-ihre-schrecklichen-geschichten-_arid,2269375.html