Speyer. Inzwischen kennt der in Speyer lebende Mohamad Mohamad, den alle nur Momo nennen, die Deutschen schon ganz gut. Einige Eigenschaften hat er sich abgeschaut, ehe er vor wenigen Monaten selbst ein Deutscher geworden ist. Jedenfalls sagt das jetzt sein Pass. „Die Deutschen brauchen Zeit“, weiß Momo und meint damit, dass sie grundsätzlich erstmal etwas auf Distanz bleiben, wenn es um Fremde und Fremdes geht. Er nimmt wahr, dass es in der Republik gerade etwas härter wird für Leute, die Asyl beantragen wollen.
Im Mai 2015 kam der inzwischen 41-jährige Kurde, der im Nordosten Syriens in der Nähe von Qamischli geboren wurde, ohne Kind und Kegel hier an. Rund 12 000 Euro bezahlte er einer Schleuser-Mafia für die Hilfe auf dem Weg durch die Türkei, Bulgarien, Rumänien und Ungarn nach Österreich und Deutschland. „Jeder, der hierher wollte, musste bezahlen“, erinnert er sich. Seine Wohnung hatte er verkauft und seine Familie bei der Verwandtschaft einquartiert. „Alles auf eine Karte“, hieß das Motto, denn ihm drohte Gefängnis, Folter und der Tod. „Die Wände hatten Ohren. Ich weiß, dass sie mich holen wollten“, sagt er. Sie – das waren die Schergen von Baschar al-Assad, dem nun gestürzten Diktator. Momo floh und sah seinen inzwischen verstorbenen Vater nie mehr wieder. Ein Umstand, der ihn weiterhin jeden Tag traurig macht.
„Kinder, packt die Koffer, wir gehen zurück nach Syrien“
Seine vier Kinder (14, 13, 11 und 9 Jahre alt) konnte er später über den Familiennachzug hierher holen. Heute lebt die sechsköpfige Familie in Speyer. Und Momo, der sechs Tage pro Woche als Angestellter in einer Bäckerei in der Fußgängerzone vor dem Dom arbeitet, sagt schon seit einiger Zeit, dass es ihm schwerfalle, auch nur zwei Tage von dort weg zu sein. Als er kürzlich mit der Familie in Berlin bei Verwandten weilte, musste er früher abreisen, so sehr drückte ihn das Heimweh. „Speyer ist meine Heimat geworden“, hörte man den leidenschaftlichen Alte-Herren-Fußballer in den vergangenen Jahren oft sagen.
Nun hat sich die politische Situation in seinem Geburtsland stark verändert und nicht nur syrische Asylbewerber in Deutschland, sondern auch viele Deutsche fragen sich, ob eine Million syrische Kriegsflüchtlinge aus Deutschland nun in Massen zurück in ihr Herkunftsland ziehen. Während in der CDU schon Ideen einer Rückkehr-Prämie für solche Migranten kursieren, warnen andere noch vor der unübersichtlichen Lage.
Der 42-jährige Speyerer nutzte die leicht diffuse Situation jedenfalls in den vergangenen Tagen dazu, sich einen Scherz zu erlauben und sagte zu seinen Kindern, sie sollten die Koffer packen. Man kehre nach Syrien zurück. Der Witz ging nach hinten los, denn die Kinder, die zwar Arabisch verstehen, es aber kaum sprechen können, hätten zu weinen begonnen. Sie hätten keine Freunde dort, keine Schule und auch sonst keine Aussichten, hätten die Kinder ihm in deutscher Sprache vorgeworfen. Mohamad Mohamad musste einlenken. Dass auch er indessen jeden Tag weint, seit klar ist, dass im ganzen Land die Statuen Assads von den Sockeln geholt werden, gibt Momo freimütig zu. Es sind Tränen des Glücks und die Hoffnung, dass Familienmitglieder, die noch gefangen gehalten werden, bald frei sind.
Wie tief die Wunden sind, die das Assad-Regime der Bevölkerung zugefügt hat, ist in diesen Tagen zu beobachten. Es herrscht fast euphorischer Jubel über eine Situation, die humanitär und geostrategisch nach wie vor so instabil ist wie einige Brücken in der Metropolregion. Und so sehr es Momo auch drängt, seine 65-jährige Mutter endlich wieder in die Arme zu schließen und mit ihr einen Kaffee zu trinken und eine Zigarette zu rauchen – eine Reise nach Syrien wäre aus seiner Sicht zu gefährlich.
„In Deutschland gibt es viele Türen, Sprache ist der Schlüssel“
„Ich komme vielleicht rein, aber nicht mehr raus“, sagt er und überlegt, womöglich ins Kurdengebiet zwischen der Türkei und Irak zu reisen, um seine Mutter eventuell dort zu treffen. Eine dauerhafte Rückkehr nach Syrien schließt er für sich und seine Kinder aus. Sie alle haben inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft, seltsamerweise zieht sich dieser Prozess bei seiner Frau schon länger hin. Fest steht, dass es sich bei dieser Familie um ein Beispiel einer recht gelungenen Integration handelt. Selbstverständlich ist das bekanntermaßen nicht – gerade auch mit Blick auf Deutschlands spezielle Beziehung zu Israel. Momo hat in Syrien in jedem Schulbuch bis zur achten Klasse gelernt, das Israel der Hauptfeind ist, ein Gott nicht existiert und an dessen Stelle al-Assad regiert. „Es hieß, wir sollen Juden hassen.“ Das sieht er heute anders. Alle Menschen seien gleich, sagt der Muslim, der ab und zu auch mal eine Weinschorle mittrinkt.
Geholfen hat ihm seine sprachliche Neugierde. „Es gibt in Deutschland viele verschlossene Türen. Zu jeder Tür passt nur ein Schlüssel, der Sprache heißt“, sagt der Bäckerei-Verkäufer fast schon philosophisch. Die Sprache und seine Art, auf Menschen ohne Vorbehalte zuzugehen, hat dem Familienvater weitere Türen geöffnet. „Ich habe heute viel mehr Freunde in Deutschland, als ich in Syrien hatte.“ Und so kommt es, dass Menschen in der Bäckerei stehen und nach ihm fragen, wenn er seinen freien Tag unter der Woche hat. Teilweise laden ihn Kunden aus der Bäckerei zu sich nach Hause ein. Eine heute 80-jährige Frau, die sich um die Familie bemüht hat, nennt Momo inzwischen „Mutti“. Und dennoch fehlt ihm das tägliche Treffen mit seiner leiblichen Mutter.
„Das Zusammengehörigkeitsgefühl in den syrischen Familien ist größer als in deutschen Familien“, hat er festgestellt. Ein Altenheim gebe es nicht in Syrien. „Wir sind bei ihnen geboren und sie sterben bei uns“, sagt er über die Elterngeneration – wieder philosophisch. Wenn es um Gedanken an sein eigenes Sterben geht, ist der 41-Jährige weniger deutlich als bei der Frage, wo er leben möchte. „Ich möchte in Syrien sterben“, sagt er etwas unsicher. Bis es so weit ist, hat er wohl noch etwas Zeit. „Deutschland ist nach dem Krieg auch wieder aufgebaut worden“, sagt er. Das gehe in Syrien auch – es dauere aber 50 Jahre.
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