Interview

Mannheimer Politologin: „Voraussetzungen in Syrien sind schwierig“

Die Mannheimer Politikwissenschaftlerin Sabine Carey forscht zu Bürgerkriegen und Milizen. Im Interview spricht sie über die Lage in Syrien und erklärt, warum es schwierig ist, aus Diktaturen in eine Demokratie zu kommen

Von 
Sebastian Koch
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Führt die HTS-Miliz an: Abu Muhammad al-Dschaulani. © dpa

Mannheim. Frau Carey, Sie beschäftigen sich in ihrer Forschung mit Bürgerkriegen und Milizen. Hat Sie überrascht, wie schnell die HTS in Syrien Baschar al-Assad nach fast 14 Jahren Bürgerkrieg gestürzt hat?

Sabine Carey: Die meisten Beobachter sind überrascht gewesen, wie schnell es am Ende ging. Gleichzeitig war es aber nicht überraschend, dass das Assad-Regime ohne Unterstützung Russlands und Irans sehr schwach war. Assads Siege, als er zum Beispiel Aleppo gehalten hat, waren nur durch Unterstützung von Bodentruppen der Hisbollah, vom Iran und aus der Luft durch Russland möglich. Dass alle externen Partner derzeit sozusagen anderweitig sehr beansprucht sind, hat Assad sehr geschwächt.

Vor allem Russland hatte keine Möglichkeiten mehr, ihn zu unterstützen. Assad selbst hat es auch nicht geschafft, Unterstützung im Volk aufzubauen. Ihm hat jegliche Unterstützung gefehlt. Dass er sich, wenn die Unterstützung aus Russland und dem Iran wegfällt, auf Dauer nicht lange aus eigener Kraft halten kann, war absehbar. Überraschend war, wie schnell der Vorstoß der HTS letztlich möglich war und wie wenig Widerstand die Gruppe erfahren hat. Auch das zeigt, wie schwach das syrische Militär war.

Die Mannheimer Politikwissenschaftlerin Sabine Carey. © Elfengraphie

Ist es eine positive Nachricht für Syrien, dass Assad gefallen ist, oder besteht die Gefahr, dass im jetzigen Machtvakuum der Bürgerkrieg nicht nur nicht endet, sondern sogar noch unübersichtlicher wird?

Carey: Das ist die Eine-Million-Dollar-Frage, die momentan niemand seriös beantworten kann. Klar ist, dass die Bevölkerung und auch die Menschen im Ausland, die geflüchtet sind, erst einmal erleichtert sind, dass Assad gestürzt ist. Wie es weitergeht, kann man aber nicht prognostizieren. Dazu kommt, dass die HTS nicht die Kontrolle über das ganze Land hat. Es gibt mehrere bewaffnete Gruppen, was hochproblematisch ist.

Die Rebellen haben mehr oder weniger zusammengearbeitet, um ihr gemeinsames Ziel zu erreichen: Assad zu stürzen. Das haben sie erreicht. Aber darüber hinaus gibt es große Unterschiede zwischen den Gruppen. Die Frage ist, ob sie sich politisch irgendwie arrangieren können und wie sich die HTS gegenüber Minderheiten verhält.

In den vergangenen Jahren ist sie eher gemäßigt aufgetreten.

Carey: Ja. Sie hat sich auch in den letzten Wochen oft dahingehend geäußert, dass sie mit Minderheiten sprechen möchte. Aber wie sie das in der Realität umsetzt, kann man nicht vorhersehen. Die Ausgangslage ist jedenfalls schwierig, weil man mehrere stark bewaffnete Gruppen mit unterschiedlichen ideologischen Zielen hat, die noch dazu unterschiedliche Gebiete besitzen und Gruppen vertreten.

Sabine Carey: Forschung zu Demokratisierung und Konflikten

  • Die Politikwissenschaftlerin Sabine Carey wurde 1974 in Malsch bei Karlsruhe geboren.
  • Carey ist seit 2010 als Professorin für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen an der Universität Mannheim. Derzeit ist sie außerdem Direktorin des Mannheimer Zentrum für europäische Sozialforschung.
  • Ihre Schwerpunkte auf dem Feld der internationalen Beziehungen sind Demokratisierung, Konfliktforschung und Menschenrechte.

Ist Syrien mit anderen Staaten in der Vergangenheit zu vergleichen? Wie hat sich die Situation dort entwickelt?

Carey: In Tunesien, Ägypten, im Sudan, im Irak und natürlich in Afghanistan hat es ähnliche Diktaturen gegeben, die gestürzt worden sind. Viele haben blauäugig gedacht, dass sich danach demokratische Regime entwickeln. Dem war nicht so. Deshalb ist auch in Syrien sicherlich Vorsicht angebracht und es wäre viel zu früh zu sagen, dass der Weg für eine Demokratie jetzt frei ist.

Auch in den anderen Ländern hat es nicht die eine Gruppe gegeben, die die Unterstützung der breiten Bevölkerung für sich beanspruchen konnte und die administrativ und militärisch die Kontrolle über das ganze Land hatte. Die Voraussetzungen in Syrien sind schwierig und mit denen vergleichbar, die in anderen Ländern auch nicht zu einem stabilen demokratischen System geführt haben.

Wenn Bürgerkriege dazu führen, dass Machthaber gestürzt werden - ist es für das Ausland dann ratsam, sich einzumischen? Wie sollte sich das Ausland Syrien gegenüber jetzt verhalten?

Carey: Das kommt darauf an wie man „einmischen“ definiert. Nach dem Bürgerkrieg ist die Infrastruktur völlig zerstört. Es gibt großen Bedarf für humanitäre Hilfe. Der wichtigste Punkt für ein tragfähiges politisches System ist aber, dass die Bevölkerung hinter der Regierung steht. Das kann das Ausland nicht beeinflussen. Gleichzeitig haben unterschiedliche LänVorschaubild, Beschreibung siehe Textder weiterhin Interessen an Syrien.

Denken Sie daran, was mit vielleicht noch vorhandenen chemischen Waffen passiert. Es ist nachvollziehbar, dass die internationale Gemeinschaft ein Interesse daran hat, dass die zerstört werden und nicht in falsche Hände geraten. Das Ausland kann auch helfen, Beweise für Assads Gräueltaten zu sichern. Politisch muss das Ausland aber erst einmal abwarten, was passiert.

In Syrien gibt es zahlreiche Milizen, die Baschar al-Assad gemeinsam gestürzt haben. Für Politologin Carey stellt sich die Frage, ob die Gruppen sich politisch arrangieren können. © picture alliance/dpa/AP

Wir haben über Staaten gesprochen, in denen der Demokratisierungsprozess nicht eingetreten ist. Gibt es auch positive Beispiele, nachdem Milizen Machthaber gestürzt haben?

Carey: Das ist eine schwierige Frage. Wenn Milizen oder bewaffnete Gruppen eine Regierung stürzen, gelingt das oft, weil politische, soziale und wirtschaftliche Systeme enorm schwach sind und dadurch einen Sturz begünstigen. Auch Assad konnte unter anderem deshalb gestürzt werden.

Das Problem einer solchen Situation ist: Grundbedingungen, die es ermöglichen, eine autokratische Regierung zu stürzen - wenn politische Institutionen schwach oder teilweise nicht vorhanden sind oder es eine große Armut und eine zerstörte Infrastruktur gibt -, erschweren gleichzeitig, dass eine funktionierende Demokratie aufgebaut werden kann. Das bedeutet, die Voraussetzungen für eine Demokratie nach dem Sturz sind von Anfang an sehr schwierig.

Sie sind also wenig optimistisch, was die Zukunft Syriens betrifft?

Carey: Ich wäre vorsichtig, davon auszugehen, dass in ein paar Monaten in Syrien alles friedlich sein wird. Das kann passieren - aber die Vorzeichen sind eher schlecht. Vieles kommt jetzt darauf an, wie sich die HTS verhält. Was sie gerade in den letzten paar Wochen von sich gegeben hat und wie sie in den Jahren zuvor auch die Provinz rund um Idlib regiert hat, hat gezeigt, dass sie Institutionen aufbauen und die lokale Bevölkerung versorgen kann.

Die Fragen sind, ob sie das aufs ganze Land ausbauen kann und wie sie mit anderen Gruppen umgeht. Was passiert zum Beispiel mit kurdischen Gruppen im Norden, die ihr autonomes Gebiet nicht aufgeben wollen? Es kommt auch darauf an, wie andere Länder, vor allem die EU oder die USA, mit der HTS umgehen.

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Was weiß man über die HTS?

Carey: Offiziell ist die HTS als Terrorgruppe klassifiziert. Es gibt deshalb zumindest offiziell keine direkten Gespräche mit ihr. Die HTS ist daran interessiert, als legitime Gruppe anerkannt zu werden, die Syrien führen kann. Deshalb würde es ihr helfen, wenn sie von UN, EU und USA nicht mehr als Terrorgruppe eingestuft wird. Das zu entscheiden, ist aber zu früh. Man muss abwarten, wie sie tatsächlich mit Minderheiten oder auch mit Frauen umgeht. Ursprünglich war die HTS eine islamistische Gruppe, die sich aber inzwischen vom IS und von Al-Quaida abgespalten hat.

Man kann sie mit diesen Gruppen nicht gleichsetzen. Die HTS ist aber sicher auch keine demokratische Gruppe, die als Ziel hat, Syrien in eine Demokratie zu führen. Zumindest als mittleres Ziel sollte man deshalb erstmal Stabilität und Sicherheit anstreben, im Idealfall mit Respekt der Grundrechte für alle Gruppen im Land. Dann wäre viel erreicht. Darauf sollten auch internationale Akteure achten und ein Auge darauf haben, wie sich die Situation in den nächsten Wochen und Monaten verändert.

Redaktion Reporter in der Lokalredaktion Mannheim & Moderator des Stotterer-Ppppodcasts

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