Gegen das Vergessen

Luigi Toscano zeigt vor Wasserturm in Mannheim Porträts von Holocaust-Überlebenden

Sie waren schon in New York, Kiew, Wien und Paris ausgestellt: über 60 große Porträts des Mannheimer Fotografen Luigi Toscano. Bis 11. Mai stehen sie nun an einer prominenten Stelle in der Quadratestadt.

Von 
Waltraud Kirsch-Mayer
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Besucher schauen sich die Porträts vor dem Wasserturm an. © Michael Ruffler

Mannheim. Über das Unsagbare vermochte Sintezza Zilli Schmidt erst im hohen Alter zu reden. Ihr Gesicht erzählt – wie bei so vielen Holocaust-Überlebenden - von einem persönlich erlittenen und gleichzeitig kollektiv erlebten Schicksal. Das Porträt der Wahl-Mannheimerin gehört zu der Ausstellung „Gegen das Vergessen“, die über 60 großformatige Porträts des Fotografen und Filmemachers Luigi Toscano rund um den Wasserturm präsentiert - im öffentlichen Raum wie schon in New York, Kiew, Wien und Paris.

Kurz vor dem Eröffnungsprogramm am Freitagnachmittag läuft ein Kongressteilnehmer der Herzmedizintagung im gegenüberliegenden Rosengarten mit Rollkoffer Richtung Bahnhof. Plötzlich wendet er und bleibt vor einem jener Gesichter stehen, die aus Furchen zu bestehen scheinen und dennoch Vitalität ausstrahlen. Im eher zufälligen Gespräch erzählt der angereiste Kardiologe, dass sein Ur-Großvater als politischer Häftling in einem KZ umgekommen ist – er aber so gut wie nichts darüber wisse, weil dies in der Familie kein Thema sei.

Die Ausstellung, die bis zum 11. Mai aufgebaut bleibt, ist Teil der Veranstaltungsreihe „1945 bis 2025: 80 Jahre Verantwortung für Frieden und Demokratie – Erinnern, Verstehen, Gestalten“. Dass sich die Stadt bewusst für die Anlage rund um den Wasserturm entschieden hat, zieht sich einem roten Faden gleich durch die Ansprachen: Schließlich haben Nazis 1933 Mannheims symbolträchtiges Wahrzeichen mit Hakenkreuz-Fahnen vereinnahmt. Und weil es an jungen Menschen liegt, Botschaften von Zeitzeugen, von denen viele - wie Zilli Schmidt - bereits gestorben sind, lebendig zu halten, sind es Schülerinnen und Schüler des „Moll“, die das Eröffnungsprogramm moderierend und musizierend begleiten.

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Das Gymnasium ist nicht von ungefähr ausgewählt worden: Denn dort haben vor drei Jahren gezeigte Teile der Ausstellung Jugendliche motiviert, sich mit den Biografien und geschichtlichen Hintergründen der Porträtierten zu beschäftigen. Dass auch heute Krisen wie Kriege in Europa herausfordern, dafür steht Ivan: Der Neuntklässler, der - begleitet von Musiklehrer Frederik Diehl am E-Piano - mit der Klarinette Klezmer, jüdische Festmusik, spielt, ist vor gut einem Jahr aus der Ukraine geflohen.

Kulturbürgermeister Thorsten Riehle betont, dass die Ausstellung dem Erinnern verschiedener Opfergruppen gewidmet ist. Und so werden auch Porträts von Männern und Frauen gezeigt, die Zwangsarbeit leisten mussten oder politisch verfolgt wurden. „Nichts gehört der Vergangenheit an. Alles ist Gegenwart und kann wieder Zukunft werden“, zitiert Riehle den späteren Auschwitz-Ankläger Fritz Bauer.

Als Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde erinnert Heidrun Kämper daran, dass viele Holocaust-Überlebende lange stumm geblieben sind, weil sie angesichts der Monstrosität des Grauens fürchteten, ihnen könnte nicht geglaubt werden. Besorgt zeigt sie sich darüber, dass Rechtsaußen ihre „Schlussstrich-Forderungen“ zum Polit-Programm gemacht haben. Auch Daniel Strauß unterstreicht als Vorsitzender des baden-württembergischen Landesverbandes deutscher Sinti und Roma, wie wichtig es ist, Geschichte verwoben mit erlittenen Schicksalen sichtbar zu machen und dabei Haltung zu zeigen.

Toscanos Weg war hindernisreich

Die UNESCO ernannte Luigi Toscano 2021 als ersten Fotografen weltweit zum „Artist for peace“. Bis dahin sollte es ein hindernisreicher Weg sein. Der Mannheimer berichtet, dass er anfänglich bei der Suche nach Projektförderung vor allem auf Ablehnung mit dem Argument stieß, man wolle in die Zukunft und nicht in die Vergangenheit investieren. Hingegen habe ihm Oberbürgermeister Peter Kurz sofort volle Unterstützung angeboten. Und so entstand 2015 und damit zum 70. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager eine Foto-Installation an der Fassade der Alten Feuerwache. Toscano, der für seine Erinnerungsprojekte „unglaublich viele Beleidigungen“ zu hören bekommen hat, ruft den versammelten Menschen zu: „Macht was, damit die Demokratie nicht verloren geht!“

Die Ausstellung soll ein Zeichen gegen Ausgrenzung und für die Werte der Demokratie setzen. © Michael Ruffler

Und dann trifft Oberbürgermeister Christian Specht, den ein Termin aufgehalten hatte, am Wasserturm ein. Er blickt auf seine Abiturrede zurück, in der ihn vor vier Jahrzehnten bewegte, dass der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker den 8. Mai von 1945 nicht als Tag der Kapitulation, sondern der Befreiung vom NS-Terror gewürdigt hatte - was damals noch Empörung hervorrief.

Nach Ansprachen und Musik stehen 20 am „Moll“ ausgebildete Ausstellungs-Scouts bereit, an Porträt-Tafeln die jeweiligen Kurzbiografien mit zusätzlichen Informationen, Familienfotos und Landkarten zu bereichern. Anonymisiert präsentiert Luigi Toscano inzwischen auch Menschen, die im Dritten Reich dem Euthanasie-Programm entkommen sind. Wie jene hochbetagte Frau, die als Mädchen aus einer vermeintlichen Pflegeeinrichtung für behinderte Kinder, die aber eine verkappte Tötungsstätte war, rechtzeitig von der Familie wieder zurückgeholt worden ist. Vor ihrem Porträt steht der Kardiologe jetzt. Er hat sich für einen späteren Zug entschieden.

Freie Autorin

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