Mannheim. Naja. Auf den ersten Blick wirkte das, was man da aus den Beständen derer von Leiningen bekam, für Laien … sagen wir mal vorsichtig „unscheinbar“. Ein graues Etwas aus Holz, vorne ein Rad, darüber ein Deichsel-ähnliches Gestänge, dahinter eine Art Bank, und ganz hinten ein durch eine metallene Lehne angedeuteter Sitz. Ziemlich wacklig, das Ganze. „Man durfte es kaum anfassen, sonst fielen Teile ab“, erinnert sich Ingeborg Osen. Dass dieses „Ding“ mal zu ihrem Lieblingsobjekt unter den vielen tausend Exponaten und Sammlungsstücken im Technoseum werden sollte, war damals, bei ihrer ersten Begegnung im Jahr 2009, kaum absehbar.
Aus dem Dornröschen-Schlaf erweckt
„Es hatte schon so eine Art Dornröschen-Ausstrahlung“, sagt die Diplom-Restauratorin, und blättert versonnen in ihrem Dokumentationsaktenordner, der das Objekt in seinem Fundzustand zeigt. Dass dieses weltweit einzigartige Gefährt etwas ganz und gar Besonderes ist, das erkannten damals nur Fachleute wie sie.
Neue Serie Lieblingsstücke
Lieblingsstücke - wir alle haben sie, auch bei der Arbeit. Wir schauen in einer kleinen Serie hinein in ein beeindruckendes Mannheimer Museum , wir öffnen Türen, die sonst für das Publikum verschlossen bleiben, und lassen uns von den Menschen, die uns dort im Technoseum ihre Lieblingsstücke zeigen, erklären, warum ausgerechnet dieses oder jenes Objekt ihnen so ans Herz gewachsen ist. Dass wir dabei vieles über die Frauen und Männern dort erfahren, die wir sonst als Besucher kaum jemals kennenlernen würden, macht den Blick auf die Lieblingsstücke umso spannender.
Aber nicht deshalb hat sie das Holzgestell aus den Jahren 1825 bis 1850 für uns als ihr ganz persönliches Lieblingsstück ausgewählt, schließlich gibt es etliche einzigartige Objekte im Museum. „Nein, das war es nicht, jedenfalls nicht nur“. Vielmehr sehe man an dem Einzelstück ganz genau, was sein Vorbild war, man erkenne, was sich der Konstrukteur dabei gedacht habe, und bemerke auch, wo die Schwachstellen in der Ausführung liegen. „Sehr spannend“ findet Ingeborg Osen das alles. Und es sei eine echte Herausforderung gewesen, das betagte Gefährt so weit zu restaurieren, damit die Besucher erkennen können, was es einst war: eine Art Drais‘sches Dreirad für Kinder.
Wir sitzen in ihrer Werkstatt im östlichen Trakt des Technoseums und unterhalten uns. Über das Dreirad, über sie, über ihren Werdegang. „Ich wollte Schreinerin werden, aber das war damals gar nicht so einfach“, erinnert sich die Heidenheimerin an ihre ersten Schritte auf dem Berufsweg und faltet die Hände vor sich auf dem hellgrauen Resopaltisch.
Nach der Schreinerlehre Praktika absolviert
Nachdem es dann schließlich doch geklappt hat und sie die Lehre erfolgreich abschließt, hat sie durch Praktika bei Restauratoren sozusagen „Blut geleckt“. „Ich habe gemerkt, das ist deine Richtung“, sie bewirbt sich in Köln für einen Studienplatz als Diplomrestauratorin, Fachrichtung Holz, und fängt zusammen vier Kommilitonen dort an.
Ein gütiges Schicksal bringt sie schließlich während eines Praxissemesters ins Technoseum. Nach einer Zeit als Selbstständige, in der sie unter anderem in der bischöflichen Residenz in Passau arbeitet, erinnert man sich in Mannheim an sie - als eine Stelle frei wird, will man Ingeborg Osen unbedingt im Team haben. Ja, glücklich sei sie, dass es so gekommen ist. Sonst hätte sie es ja vielleicht nie mit ihrem Lieblingsstück zu tun bekommen.
Kinder-Lauf-Dreirad
Das Kinder-Lauf-Dreirad datieren Experten auf die Zeit von 1825 bis 1850.
Es ist 1,40 Meter lang und zwölf Kilo schwe r.
Es wurde von 2009 bis 2013 in den Werkstätten des Technoseums von Ingeborg Osen und ihren Kollegen restauriert .
Das Objekt ist auf Ebene B im Bereich, der sich mit dem Freiherren von Drais und seiner Laufmaschine beschäftigt, zu sehen.
Derzeit arbeiten vier Restauratorinnen und Restauratoren im Technoseum, zwei weitere Kollegen stoßen bald dazu.
Das ist, genau genommen, ein absoluter Zufallsfund eines Kollegen auf dem Dachboden des Leining’schen Schlosses in Amorbach. Wie es da so halb verdeckt in einer dunklen Ecke stand, dachte der Fachmann zuerst, er habe eine Laufmaschine des Freiherrn von Drais entdeckt. „Aber was er gefunden hatte, war mindestens ebenso außergewöhnlich“, erklärt die Expertin. Denn dass man das Dreirad beim ersten Augenschein mit einer Draisine verwechseln konnte, zeigt vor allem eines: „Dass das Objekt ganz eindeutig von den Laufrädern, die es damals schon gab, inspiriert ist.“
Stück erinnert sehr stark an Laufrad von Karl von Drais
Das Rad mit den gedrechselten Speichen, die lang gestreckte Sitzbank mit der Rosshaar-Polsterung, vor allem aber die Lenkstange mit der darüberliegenden Unterarmstütze, das alles erinnert sehr stark an das große Vorbild des Konstrukteurs: das Laufrad des Freiherrn Karl von Drais, mit dem der Erfinder bekanntlich zuerst in Mannheim herumfuhr.
Wie Drais, so vermuten die Experten auch im Konstrukteur des Kinder-Lauf-Dreirads einen Karlsruher. Ingeborg Osen: „Wir halten es für möglich, dass ein Wagenbauer in Diensten des Fürsten von Leiningen das Gefährt für den Nachwuchs des Fürstenhauses baute.“ Man sehe deutlich, dass der Erbauer sein Handwerk verstand - und dass er dabei Materialien verwendete, die zu seiner Zeit sehr teuer waren: „Die Farben, in denen das Holz gefasst ist: Zinnober-Rot und Berliner Blau, aber auch die handgeschmiedeten Schrauben oder das aufwendig gearbeitete Polster der Sitze“.
An jedes Detail erinnert sich die Restauratorin, daran etwa, wie man die Bespannung mit Staubsauger und Pinsel reinigte, „was zum Vorschein kam, war wunderbar: ein geblümter Stoff, das sorgfältig gearbeitete Rosshaar-Polster darunter, ja und leider ein gebrochenes Sitzbrett“.
Polster und Bespannung sollten erhalten bleiben
Eine Höchstschwierigkeit bei der Restaurierung übrigens: „Wir wollten Polster und Bespannung unbedingt so erhalten, sie wären wahrscheinlich sehr stark in Mitleidenschaft gezogen worden, hätten wir sie abgenommen“. Es ist letztlich gelungen, das Brett auch so zusammenzuleimen und auch den Sitz mit ausgeklügelter Technik - nur soviel sei gesagt: Schweinedärme und Elastik-Kleber kamen dabei zum Einsatz - zu bewahren. Eine Meisterleistung des ganzen Teams.
Ingeborg Osen weiß noch genau, was das für ein Gefühl war, es endlich, endlich geschafft zu haben, nach fast vier langen Jahren herausfordernder Arbeit: „Wir waren sehr zufrieden und sehr erleichtert.“ Seit 2017, seit der Fahrradausstellung zum Drais-Jubiläumsjahr, ist das Kinder-Lauf-Dreirad nun ein Exponat auf Ebene B im Technoseum, „und wir haben lange recherchiert - es gibt nichts Vergleichbares, nirgendwo“. Spätestens jetzt weiß auch der Laie: Das Ding ist etwas ganz Besonderes.
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