Mannheim. Ans Rednerpult zu treten, das ist Zilli Schmidt dann doch zu beschwerlich. Dafür klingt ihre Stimme kraftvoll und kämpferisch, als sie im Sessel sitzend vor laufender Kamera ins Mikrofon sagt: „So lange ich meine Augen noch offen habe, will ich mich für die Freiheit einsetzen, die Gott allen Menschen gegeben hat.“ Die 97-jährige Holocaustüberlebende wird am Freitagabend im Mannheimer Kulturzentrum der Roma und Sinti, dem Romnokher, mit dem Bundesverdienstkreuz gewürdigt. Den Orden überreicht Oberbürgermeister Peter Kurz.
Durch Ihre Vermittlung wissen wir heute mehr über das Leiden der Sinti und Roma, aber auch so viel mehr über ihr Leben, ihre Musik und ihre Kultur.
Eigentlich hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die hohe Auszeichnung bereits im April 2021, am Vortag des 50. Jahrestages des ersten Roma-Weltkongresses, persönlich übergeben wollen. Weil die Corona-Pandemie eine Begegnung verhinderte, griff das Staatsoberhaupt zum Füllfederhalter. In seinem dreiseitigen handschriftlichen Brief lässt er die Jahrhundertzeugin wissen, dass ihn deren im hohen Alter, nämlich jenseits des 90. Geburtstages, herausgebrachtes autobiographisches Buch „Gott hat mit mir etwas vorgehabt! Erinnerungen einer deutschen Sinteza“ tief beeindruckte.
„Durch Ihre Vermittlung wissen wir heute mehr über das Leiden der Sinti und Roma, aber auch so viel mehr über ihr Leben, ihre Musik und ihre Kultur“, würdigt Steinmeier die Überlebende des Völkermordes, die im sogenannten Zigeunerlager Auschwitz-Birkenau ihre kleine Tochter Gretel, außerdem Eltern und die Schwester mit sechs Kindern verloren hat. Der Bundespräsident dankt der bis heute „unerschütterlichen Kämpferin gegen Hass, Ausgrenzung und Rechtsextremismus“.
Als Zilli Schmidt für das Buch über ihr schicksalsträchtiges Leben mit einer schönen Kindheit im Wohnwagen und den späteren Schrecken in Konzentrationslagern berichtete, da war sie bereits Mitte Neunzig. Dass ihr Töchterchen Gretel nur vier Jahre und drei Monate alt werden durfte, hat sie bis heute nicht überwunden. In dem Buch heißt es: „Ich laufe oft hier rum, in meiner Wohnung, rauche Zigaretten und ... weine. Nachts. Dann bin ich in Auschwitz, dann sehe ich das alles wieder ganz genau, wie es da zugeht, dass wir alle nackig ausgezogen werden, ach … Kind und Kegel nackig.“
Jahrzehnte sollten vergehen, ehe Zilli Schmidt in der Lage war, über das Unsagbare zu sprechen. Es gibt ein Foto, das sie bei ihrer allerersten öffentlichen Rede am 2. August 2018 bei der Gedenkveranstaltung anlässlich des 74. Jahrestages der »Liquidation des Zigeunerfamilienlagers« in Auschwitz-Birkenau am Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma Europas zeigt. Die schmächtige Mittneunzigerin vermag kaum über das Rednerpult zu schauen - aber ihre Körpersprache signalisiert jene Energie, die sie aus dem tief empfundenen Auftrag schöpft, Zeugnis abzulegen.
Bei der Übergabe des Bundesverdienstkreuzes ruft Daniel Strauß, Vorsitzender des Landesverbandes der Sinti und Roma in Baden-Württemberg, Zilli Schmidt nicht nur in Deutsch zu, wie stolz er darauf ist, dass eine der ihren die hochkarätige Auszeichnung bekommt. Er gratuliert ihr auch in Romanes - jener Sprache, die Kulturgut und Überlebensstrategie in einem ist, weil sie über Jahrhunderte gerade in schwierigen Zeiten das Gemeinschaftsgefühl stärkte.
Für Oberbürgermeister Peter Kurz ist es keineswegs selbstverständlich, dass die 97-Jährige den Orden der Bundesrepublik Deutschland annimmt. Schließlich habe sie auch nach dem Nazi-Regime unfassbare Diskriminierung erlebt - beispielsweise beim Kampf um Wiedergutmachung: Es waren Beamte, die schon vor 1945 an Deportationen beteiligt waren und gleichwohl später über finanzielle Entschädigungen entschieden. Und so wurde wahrheitswidrig behauptet, die junge Frau sei 1942 nicht wegen ihrer ethnischen Herkunft, sondern als „arbeitsscheue Streunerin“ und damit als „Asoziale“ in „KZ-Vorbeugehaft“ genommen worden. Aber Zilli Schmidt kämpfte juristisch weiter um ihr Recht. „Wir brauchen derart mutige Menschen, wie Sie, die sich klar bekennen“, betont OB Kurz, als er ihr das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland an die Jacke heftet. „Ich freue mich über diese Ehre“, erklärt die von Familienmitgliedern eingerahmte Sinteza.
Und dann kommt noch eine Überraschung: Beim Hochrollen der Leinwand wird ein riesiges Porträt von Zilli Schmidt sichtbar, das der Fotograf Luigi Toscano vor eineinhalb Jahren in ihrer Wohnung für sein Ausstellungsprojekt „Gegen das Vergessen“ aufgenommen hat. 400 Holocaust-Überlebende traf der Deutsch-Italiener. 150 der Aufnahmen werden demnächst in die USA reisen und dort einschließlich damit verknüpfter Schicksale präsentiert – auch das Porträt der Wahl-Mannheimerin. Toscano: „Zilli Schmidt gehört bei dem Projekt zu meinen Lieblingen - weil sie trotz allem so lebendig und offen geblieben ist.“
Über Zilli Schmidt
- Zilli Schmidt, geborene Cäcilie Reichmann (Jahrgang 1924), entstammt einer katholischen Familie, die zu einer vor allem in Böhmen und Mähren beheimateten Teilminderheit der Roma gehörte.
- Sie überlebte das „Zigeunerlager“ im KZ-Auschwitz wie auch Haft in anderen Lagern. 1988 sagte sie vor dem Landgericht Siegen als Zeugin gegen einen SS- Blockführer von Auschwitz aus.
- 1970 zog sie mit ihrem Mann Anton Schmidt, einem Musiker, nach Mannheim. Davor war das Paar viele Jahre im Wohnwagen unterwegs.
- „Gott hat mir etwas vorgehabt! Erinnerungen einer deutschen Sinteza“ : Das Buch über das Leben von Zilli Schmidt haben Jana Mechelhoff-Herezi und Uwe Neumärker 2020 auf der Grundlage autorisierter Zeitzeugengespräche herausgegeben.
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