"Ich will bezeugen, dass die Nazis nicht nur die Juden vergast haben.“ Wenn Zilli Schmidt diesen Worten Gestalt verleiht, wird sie ernst, die Falten erobern die sonst so heiteren Züge und ihre Miene verfinstert sich. Nachts, da wache sie immer wieder aus Alpträumen auf, „und dann bin ich in Auschwitz“. Seit Jahren nehme sie Antidepressiva, um für einige wenige Stunden jenes Trauma zu besiegen, das die Schuld der Nazis ihr für immer in die Seele geschrieben hat: „Eigentlich verbietet mir das mein Glaube, aber mein Herr Jesus, der versteht mich.“ Es sind Worte des Trosts, die die 97-Jährige findet – eine Sintezza, die sich aller Widerstände zum Trotz, nie hat zerbrechen lassen, um aus ihrem eigenen Schicksal heraus zu einer entschlossenen Mahnerin zu werden.
Für nachdrückliche Memoiren oder eine Retrospektive der Beschwernis gibt es in den frühen Tagen der heutigen Grand Dame der Bürgerrechtsarbeit zunächst aber gar keinen Anlass. Denn als Cäcilie, wie Zilli offiziell heißt, am 10. Juli 1924 in Hinternah im Kreis Hildburghausen das Licht der Welt erblickt, wird sie in eine Familie hineingeboren, die das Leben liebt. Von einem Lanz-Bulldog durch ganz Deutschland gezogen, betreibt die Familie als Schausteller ein Wanderkino, lockt mit den Stummfilmen von Dick und Doof vor allem in den ländlichen Regionen die Bauern und genießt jeden Tag der eigenen Profession. „Wir haben ein einfaches, aber gutes und schönes Leben gehabt“, wird Zilli Schmidt im Gespräch erklären – und sich an die Waldidylle Thüringens erinnern, die sie mit ihren Eltern und Geschwistern leidenschaftlich durchtobte. Auf wilde Nächte mit Tanz, Trank und Freunden angesprochen, muss die Frau noch immer schmunzeln und weiß: Sie hatte es faustdick hinter den Ohren.
Für Zilli hätte es wahrlich so weitergehen können, denn obwohl sie eine Frohnatur ist, versteht sie sich auf Ordnung und Disziplin, besucht auch auf Wanderschaft regelmäßig die Schule, ist gebildet und fleißig. Man könnte sagen: Diese Jugendliche ist ein gescheites Mädel. Eine Heranwachsende, die mit ihrer Familie selbst dann noch für cineastische Unterhaltung sorgt, als die NSDAP längst die Macht ergriffen hat.
Tatsächlich gibt es auf dem Lebensweg der Zilli Schmidt einige Anhaltspunkte dafür, dass die Hoffnung, von den Nationalsozialisten verschont zu bleiben, eine berechtigte ist. Denn einerseits gelingt es der damaligen Reichspolizei und anderen Behörden aufgrund der fortwährenden Reise kaum, die Familie auszumachen. Andererseits werden starke und wehrfähige Männer aus dem unmittelbaren Angehörigenkreis in die Wehrmacht eingezogen. Berechtigterweise geht die Familie davon aus, auch als sogenannte Zigeuner und selbst nach dem Deportationserlass von Heinrich Himmler im Dezember 1942 zu den „vollwertigen Deutschen“ zu zählen. In einem Dokumentarfilm von Hamze Bytyci über das Leben von Zilli Schmidt wird es heißen: „Die bringen doch nur die Verbrecher weg.“ Ein fataler Irrtum.
Zwar reist Zilli gemeinsam mit ihren Cousinen Katharina und Else nach Straßburg, lässt sich von Widerstandskämpfern immer wieder verstecken und schafft mehrfach auch fast den Sprung ins Exil. Doch am 8. Juni 1942 wird jede Zuversicht durch die Festnahme jäh zerstört. Über das Konzentrationslager Lety bei Pilsen gelangt Zilli Schmidt nach Auschwitz-Birkenau, wo sie große Teile ihrer Familie wiedertreffen wird, jedoch unter wenig erfreulichen Umständen. Auch das Leid ihrer damals gerade dreijährigen Tochter Gretel muss sie mit ansehen. Ein Schmerz, der selbst die geistig und körperlich so starke Frau irreversibel treffen sollte.
Wäre die junge Frau nicht adrett, sauber und wortgewandt genug gewesen, um sich selbst im sogenannten Zigeunerlager bei den Nazi-Kräften in Auschwitz zu empfehlen: Vermutlich wäre ihre Familie und auch sie selbst ausgelöscht worden. Doch so verguckt sich der Lagerälteste Hermann Dimanski in die attraktive Frau, bandelt mit der Blockschreiberin an bewahrt sie durch offensichtliche Hinweise mehrfach vor der Gaskammer.
Dennoch riskiert sie – für andere Sinti, aber auch weitere arme Häftlinge – immer wieder ihr Leben, stiehlt, Nahrung, Kleidung, Decken und wird dafür mit Einzelhaft im Stehen bei kompletter Finsternis bestraft. „Ich musste helfen, wo ich helfen konnte. Man muss versuchen, Mensch zu bleiben, auch, wenn um dich herum alles zutiefst unmenschlich geworden ist“, sagt Zilli Schmidt und wirft wieder einen dieser tiefen, ernsten Blicke.
Denn was nun folgt, ist die größte Zäsur in ihrem Leben. Als die Nazis im April 1944 beschließen, im Zigeunerlager Platz zu schaffen, erlebt Zilli Schmidt nicht nur den Aufstand, der die Nazi-Schergen mit Hacken und Schaufeln, aber teilweise auch mit bloßen Händen davon abhält, weiteres Morden voranzutreiben. Sie muss auch ihre Brüder und Schwestern für immer verlassen. Denn als Zilli mit ihrer Cousine Tilla am 2. August ins KZ Ravensbrück gebracht werden soll, versucht die Mutter zwar zunächst aus dem Waggon zu springen, um nach ihren Liebsten und nach Gretel zu schauen. Doch es ist Josef Mengele persönlich, der Zilli Schmidt eine Ohrfeige verpasst, sie dazu drängt, wieder einzusteigen – und ihr somit das Leben rettet.
Dass ihr Überleben so eng mit dem Sterben ihrer Familie verbunden sein würde: Es reißt ihr eine Wunde, die die gläubige Christin am Ende nur so beantworten kann: „Gott hat mit mir etwas vorgehabt!“ Und das nicht allein, weil sich diese charismatische Frau ihren Willen nicht zerstören lässt, nach dem Krieg heiratet und für ihre Wiedergutmachung kämpft. Sondern, weil sie Zeugnis ablegt, mit Wissenschaftlern ihre eigene Biografie schreibt und ein Engagement prägt, für das sie erst am Montagabend mit dem Ehrenpreis des Landesverbands Deutscher Sinti und Roma ausgezeichnet wurde. Sie sagt: „Die Neonazis sind am Werk, die schlafen nicht. Kämpft für eure Zukunft, damit ihr eine haben werdet.“
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Mannheim Klartext gegen Antiziganismus