Zeitzeugin - Schauspielerin Carmen Yasemin Zehentmeier liest aus Erinnerungen der Auschwitz-Überlebenden Zilli Schmidt

Über Unvorstellbares reden

Von 
Markus Mertens
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Die 96-jährige Zilli Schmidt überlebte das Konzentrationslager Auschwitz. © Markus Mertens

„Ich bin ein Gotteskind! Egal, was mit mir an Grausamkeit im Leben widerfahren ist: Der Herr hat mich nie verlassen.“ Es sind die großen Worte der klein gewachsenen Zilli Schmidt, die an diesem Abend bedeutungsschwer durch das Mannheimer Kulturzentrum RomnoKher wandern – und ihre Wirkung nicht verfehlen. Denn mit Schmidt spricht hier nicht nur eine 96-jährige Sinteza, die der Vorsitzende des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma, Daniel Strauß, als „herausragende Zeitzeugin“ adelt. Es spricht eine Überlebenskämpferin, die den Horror von Auschwitz überstand und sich heute wagt, über das Unvorstellbare zu sprechen – obwohl die Nationalsozialisten ihr die Leben weiter Teile ihrer Familie grausam in der Gaskammer raubten. Dieser Abend, so sieht es das Programm vor, gebührt alleine ihr.

Vor Rängen, die selbst unter Corona-Bedingungen eine imposante Kulisse darbieten, geht der Abend dabei keineswegs invasiv oder gar laut vor. Nachdem der eindrückliche Animationsfilm von Regisseur Hamze Bytyci subtil in das Leben von Zilli Schmidt einführt, ist es das zurückhaltende Mittel der Lesung, das dem Publikum die Perspektive in eine besondere Biografie eröffnet.

Dramatisch kluge Lektüre

Über Monate hinweg hatten die beiden Wissenschaftler Jana Mechelhoff-Herezi und Uwe Neumärker von der Berliner Stiftung Denkmal Zilli Schmidt immer wieder interviewt, dabei Dokumente und Bilder gesichtet und so Fundstücke einer tief bemerkenswerten Existenz zu einer eigenen Erzählung verdichtet. Unter dem Titel „Gott hat etwas mit mir vorgehabt!“ wurden sie zu einer Art Biografie kondensiert, die durchaus nicht nur schlechte Kapitel kannte.

Schauspielerin Carmen Yasemin Zehentmeier begegnet der Herausforderung der Lektüre dramaturgisch klug mit drangvoller Verve und empathischer Zurückhaltung gleichermaßen – und verschränkt die Kontraste eines wechselreichen Lebens überaus gekonnt. Anfangs stehen da bewusst die Jahre, in denen eine glückliche Familie im eigenen Wohnwagen samt Lanz-Bulldog durch die Lande zog, mit ihrem Wanderkino die Menschen erfreute und mit der bürgerlichen Gesellschaft ein anerkennendes Verhältnis pflegte. Im inneren Auge ziehen Nächte voller Tanz, Ausgelassenheit und ungarischer Musik durch die Sinne – Bilder, die schon bald dem Alltag der Verfolgung weichen sollten.

In griffigen, kurzen Episoden wird die Flucht nach Frankreich und die Festnahme in Straßburg geschildert, aber auch die Schreckenszeit in den Konzentrationslagern bewusst ausgeleuchtet. Zuerst ergreift die bittere Lager-Realität in Lety von der jungen Mutter Besitz, nach dem Auschwitz-Erlass Himmlers werden Zilli und ihre Eltern, die kleine Gretel sowie die Brüder Stifto und Hesso nach Birkenau deportiert.

Was in all den verlesenen Zeilen tief imponiert, ist, dass sie kein Wehleid, keine Klage kennen, sondern das Geschehene in erlebter, biografischer Dichte erkennen lassen – und dabei auch Nähe schaffen. Denn ganz gleich, wie sehr das tägliche Werken und Sterben auf der Seele lastete: Zilli Schmidt half, wo immer sie konnte. Ob sie in der KZ-Küche oder der Kleiderkammer ihre Arbeit verrichtete – um das Nötigste für die eigene Familie, aber auch für andere Häftlinge sicherstellen zu können, stahl sie im Zweifel auch Brot und Stiefel. Eine kühne Lebensstärke, die sie so manches Mal fast mit dem eigenen Leben bezahlt hätte.

Zuhörer bewegt und gefesselt

Es ist diese Verschränkung aus Großherzigkeit und absolutem Leid, die die Zuhörer an diesem Abend bis in die letzten Glieder hinein fesselt und bewegt. Denn während das Publikum eben noch bezeugen durfte, wie so mancher Mithäftling zumindest mit einer Decke oder einem Apfel auf den Weg in das nächste Lager ging, so erfährt man auch von emotionaler Abstumpfung, der Allgegenwart des Todes, dem Gestank der Leichen nahe des Krematoriums und kleinen Kindern wie Zillis Tochter Gretel, die scheinbar beiläufig anmerkte: „Mama, da hinten werden wieder die Menschen verbrannt!“

Dass Gott sich ihrer nicht bemächtigte, während fast ihre komplette Familie grausam ermordet wurde, erscheint der 96-Jährigen dabei keineswegs als Zufall und schließt den Kreis, der sich mit dem Titel des Buches eröffnet.

„Ich muss meine Geschichte erzählen“, lässt die Auschwitz-Überlebende am Ende noch wissen – „und ich werde sie auch weiter erzählen, um für unsere Menschen zu sprechen – bis unser Schöpfer mich wieder bei sich hat.“ Und in diesem besonderen Augenblick klingt das bereits wie ein Vermächtnis.

Zilli Schmidt und ihre Biografie

  • Cäcilie „Zilli“ Schmidt, geborene Reichmann, wurde am 10. Juli 1924 im thüringischen Hinternah geboren.
  • Die Sinteza war Tochter von Berta und Anton Reichmann, zwei Schaustellern, die mit ihrem Wanderkino durch die Städte zogen.
  • Ab Mitte der 1930er Jahre begann die Verfolgung sogenannter Zigeuner, unter der auch die Reichmanns litten – mit dem Auschwitz-Erlass waren der systematischen Deportation und Vernichtung von Sinti und Roma Tür und Tor geöffnet.
  • Auf der Flucht ins europäische Ausland wurden Zilli Schmidt und weitere Teile ihrer Familie 1942 in Straßburg festgenommen – es folgten Internierungen in den Konzentrationslagern Lety, Auschwitz und Ravensbrück.
  • Während die heutige Mannheimerin die Gräuel der Nazis überlebte, kamen große Teile ihrer Familie, auch ihre kleine Tochter Gretel, in Gaskammern zu Tode.
  • Unter dem Titel „Gott hat mit mir etwas vorgehabt“ ist unter der ISBN 978-3-942240-36-9 eine von Jana Mechelhoff-Herezi und Uwe Neumärker herausgegebene, 176 Seiten starke Biografie zu Zilli Schmidts Leben erschienen. mer

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