Diskussion

Halten Sie Israels Vorgehen für legitim, Herr Rihm und Frau Cademartori?

Chris Rihm und Isabel Cademartori sind etablierte Stimmen der Mannheimer Politik. Im Nahost-Konflikt vertreten sie entgegengesetzte Positionen. Ein Streitgespräch über Krieg, Völkerrecht und den Umgang mit Israel.

Von 
Sebastian Koch
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Der Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Rhein-Neckar/Mannheim und Grünen-Stadtrat Chris Rihm und die Mannheimer SPD-Bundestagsabgeordnete Isabel Cademartori vertreten in der Dikussion zum Umgang mit Israel gegensätzliche Standpunkte. © Pressefotoagentur Thomas Tröster

Das Wichtigste in Kürze

  • SPD-Politikerin Isabel Cademartori und der Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Rhein-Neckar/Mannheim, Chris Rihm, diskutieren ihre unterschiedlichen Standpunkte zum Nahost-Konflikt und dem Umgang mit Israel.
  • Beide betonen die Wichtigkeit der Freilassung der Geiseln und das Existenzrecht Israels.
  • Cademartori kritisiert Israels militärisches Vorgehen, Rihm unterstützt Israels Selbstverteidigung.

Mannheim. Sie sind meinungsstark und vertreten im Nahost-Konflikt völlig unterschiedliche Standpunkte: Chris Rihm und Isabel Cademartori. In der Redaktion des „Mannheimer Morgen“ diskutieren die SPD-Politikerin und der Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Rhein-Neckar/Mannheim ihre Positionen – und finden auch Gemeinsamkeiten.

Frau Cademartori, Herr Rihm, Sie vertreten im Umgang mit Israel im Krieg im Nahen Osten unterschiedliche Positionen. Sie, Frau Cademartori, werben für einen Stopp militärischer Unterstützung für Israel und sind – als eine der Politikerinnen aus der parlamentarischen Mitte – früh als Kritikerin der Kriegsführung in Gaza aufgetreten. Sie, Herr Rihm, berufen sich als Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Rhein-Neckar/Mannheim auf das Recht auf Selbstverteidigung Israels. Gibt es Positionen in diesem Konflikt, die Sie gemeinsam haben?

Isabel Cademartori: Ja. Wir sind beide der Meinung, dass die Geiseln so schnell wie möglich freikommen müssen. Wir sind uns auch darin einig, dass die zivile Bevölkerung nicht unnötig leiden sollte und dass das Existenzrecht Israels zu keinem Zeitpunkt infrage gestellt werden darf.

Chris Rihm: Das sind Standpunkte, für die auch ich absolut stehe.

Warum fällt es in Deutschland so schwer, konstruktiv über den Nahen Osten zu diskutieren?

Cademartori: Wir haben aufgrund unserer Geschichte ein besonderes Verhältnis zu Israel und eine Verantwortung für jüdisches Leben weltweit. Jede Kritik an Israel steht deshalb unter Beobachtung. Ich bin trotzdem der Meinung, dass es möglich und notwendig sein muss, das israelische Vorgehen und die Regierung scharf zu kritisieren, ohne als Antisemitin bezeichnet zu werden – wie ich es erlebt habe. Solche Vorhaltungen tragen nämlich dazu bei, dass man nicht offen diskutieren kann. Das ist ein schwerwiegender und ehrabschneidender Vorwurf.

Rihm: Ich kann die Themen, die Frau Cademartori genannt hat, in Teilen nachvollziehen. Wir müssen aber differenzieren. Ich habe auch im „MM“ schon deutlich gemacht, dass ich das Vorgehen und die Rhetorik von Netanjahu und einigen Ministern verurteile. Nichtsdestotrotz glaube ich, dass wir in Deutschland und Europa, insbesondere in sozialen Medien, stark auf Propaganda der Hamas und deren Unterstützern hereinfallen. Das führt dazu, dass es schwierig ist, zwischen berechtigter Israelkritik, die man äußern darf, und unberechtigter Kritik zu unterscheiden. Das ist sehr schwierig, insbesondere wenn mit Bildern oder mit Zahlen, die nicht immer der Realität entsprechen, gearbeitet wird. Propaganda, wie wir sie auch in Mannheim im zweiwöchigen Rhythmus erleben, kann die Meinungsbildung stark beeinflussen. Die Abgrenzung, welche Kritik an Israel berechtigt ist und welche nicht, ist schwierig.

Hält Israels Vorgehen im Gazastreifen für legitim, kritisiert aber dennoch auch Israels Regierung für deren Rhetorik: Chris Rihm. © Pressefotoagentur Thomas Tröster

Welche Kritik an Israel ist berechtigt und welche nicht? Und vor allem: Wer entscheidet das?

Rihm: Ich gehe davon aus, dass jede politisch geäußerte Kritik legitim ist. Ich erinnere an Verteidigungsminister Mosche Jaalon, der gesagt hat, man müsse eine Atombombe gegen Gaza einsetzen – das ist natürlich vollkommener Unsinn und muss scharf verurteilt werden. Das Vorgehen Israels im Gazastreifen halte ich dennoch für legitim. Wenn man angegriffen wird, muss man militärisch antworten dürfen. Das Problem ist, dass die Hamas nach wie vor Zivilisten als Schutzschilde nutzt. Leider gibt es in jedem Krieg zivile Opfer, was schrecklich ist. Besonders, wenn es Kinder trifft. Wenn wir nicht dafür sorgen, dass Hamas, Hisbollah und der Iran keine militärische Bedrohung mehr für Israel darstellen, wird es nie Frieden geben. Auch wenn es unter Netanjahu Ansätze gab, die Demokratie zu untergraben, ist Israel die einzige Demokratie im Nahen Osten.

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Cademartori: Ich halte das Vorgehen der israelischen Armee nicht für legitim und gerechtfertigt. Das ist klar völkerrechtswidrig. Das ist nicht meine persönliche Einschätzung, sondern die von nahezu jeder internationalen Hilfsorganisation, der UN und vom Internationalen Strafgerichtshof. Wenn das alles nicht mehr zählt, haben wir ein Problem. Es gelangt keine ausreichende humanitäre Hilfe in den Gazastreifen. Jeden Tag sterben Menschen beim Versuch, Hilfe zu erreichen. Die israelische Armee hat jegliche zivile Infrastruktur zerstört. Es wurden medizinische Geräte zerstört, wie „Ärzte ohne Grenzen“ angemahnt hat. Das sind Punkte, die man nicht damit beantworten kann, die Hamas verstecke sich hinter der Zivilbevölkerung. Israel kann zielgerichtet vorgehen, wie wir am Freitag im Iran erlebt haben. Auch im Kampf gegen Hisbollah wurde nicht der ganze Libanon in Schutt und Asche gelegt. Die Behauptung, das israelische Vorgehen sei alternativlos, ist nicht haltbar. Das haben der deutsche Bundeskanzler und der Außenminister nun auch erklärt. Selbst in Israel gibt es viele, die das Vorgehen nicht mehr für haltbar halten. Wenn sich die Deutsch-Israelische Gesellschaft an die Seite dieses Vorgehens stellt, stellt sie sich gegen die Menschen in Israel, die für ein Ende des Krieges demonstrieren.

Hält Israels militärisches Vorgehen für nicht verhältnismäßig, lässt aber keinen Zweifel am Existenzrecht Israels aufkommen: Isabel Cademartori. © Pressefotoagentur Thomas Tröster

Herr Rihm, die Punkte, die Frau Cademartori angedeutet hat, sind wichtig. Der Gaza-Streifen gleicht einer Mondlandschaft. Es gibt Zehntausende Tote. Die UN spricht von einer „apokalyptischen Lage“. 100 Prozent der Bevölkerung soll von Hunger bedroht sein. Es fällt schwer sich vorzustellen, wie dort jemals wieder ein Mensch leben kann. Ist das noch eine verhältnismäßige Selbstverteidigung?

Rihm: Aus unserer Sicht und aus meiner persönlichen Sicht muss die Hamas vernichtet werden. Ich benutze das Wort „vernichtet“ bewusst. Ohne diesen Schritt wird es nie Frieden in Israel oder eine Zwei-Staaten-Lösung geben, hinter der ich stehe. Kein Politiker, der eine Zwei-Staaten-Lösung fordert, hat bisher erklärt, wie das funktionieren soll. Auch die arabischen Staaten halten sich da bedeckt. Wir müssen diese Neuordnung hinbekommen. Mir hat bisher aber auch noch niemand erklärt, was die Alternative sein kann. Frau Cademartori sagt, Israel würde im Iran und im Libanon präzise vorgehen. Es hat aber auch im Libanon und im Iran zivile Opfer gegeben. Die gibt es bei militärischen Angriffen leider. Der Gazastreifen ist winzig und extrem dicht besiedelt. Jeder Präzisionsangriff hat enorme Schäden zur Folge. Die Hamas verheizt ihr eigenes Volk. Der Krieg hätte längst beendet werden können, wenn die Hamas die Waffen niedergelegt und die Geiseln freigelassen hätte. Das zeigt, dass kein Friedenswille da ist.

Cademartori: Es werden 2.000 Tonnen Bomben auf ein dicht besiedeltes Gebiet geworfen – Bomben, die sonst in keinen vergleichbaren Gebieten auf der Welt eingesetzt werden. Deswegen gibt es das Prinzip der Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht. Natürlich gibt es immer zivile Opfer. Aber das muss verhältnismäßig sein. Es gab ein Waffenstillstandsabkommen in drei Phasen, das bis zur ersten Phase von beiden Seiten eingehalten wurde. Von beiden Seiten wurden Geiseln beziehungsweise Gefangene freigelassen. Gleichzeitig sagt die israelische Regierung, dass es nicht mehr nur um die Geiseln oder die Hamas geht, sondern auch um Vertreibung der Palästinenser und eine israelische Besiedlung des Gazastreifens, Stichwort Trump-Plan. Herr Rihm, wenn Minister das sagen, kann man das nicht einfach ausklammern. Netanjahus Koalitionspartner hat gesagt, dass er der vollständigen Umsetzung des Waffenstillstandsabkommens nicht zustimmen wird. Der Krieg wurde wieder aufgenommen, inklusive einer zweimonatigen Totalblockade aller humanitären Güter. Die israelische Regierung möchte den Krieg fortsetzen, mit dem Ziel der Vertreibung der Palästinenser und um sich politisch an der Macht zu halten.

Diese Aussagen von Ministern des rechtsextremen Koalitionspartners Netanjahus hat es gegeben. Bis zu welchem Punkt reicht Solidarität mit Israel, Herr Rihm?

Rihm: Wenn es zu einer Vertreibung und Entsiedelung des Gazastreifens kommen sollte, ist das für uns eine rote Linie. Das sehe ich im Moment aber nicht. Ich kenne die Aussagen israelischer Politiker. Es gibt noch viel gravierendere, wenn Sie an die Atombombe denken. Da fasst man sich nur an den Kopf. Trotzdem sehe ich aktuell keine Vertreibung. Man muss sich auch in die israelische Seite hineinversetzen. Das passiert mir in der deutschen und europäischen Politik und Gesellschaft im Moment zu wenig. Israel ist von Staaten umgeben, die teilweise als Staatsdoktrin die Vernichtung Israels verfolgen. Insofern ist es richtig, dass Israel und die zivilisierte Welt den Iran daran hindern müssen, eine Atomwaffe zu erlangen. Im Gazastreifen würde ich mir mehr Engagement von arabischen Staaten wünschen und nicht, dass sie die Grenzen schließen. Unsere Grenze als DIG ist klar: Völkerrechtswidrige Entsiedelung und Deportation der Bevölkerung gehen überhaupt nicht. Wir brauchen die Zwei-Staaten-Lösung. Aber dafür muss die Hamas zerstört werden.

Cademartori: Wann ist der Punkt erreicht, an dem die Hamas zerstört ist? Alle führenden Köpfe sind tot. Es wurden neue benannt und der Krieg geht weiter. Was wäre überhaupt der nächste politische Schritt, wenn diese vermeintliche Vernichtung der Hamas stattgefunden hat? Wer regiert dann den Gazastreifen? Wer regelt den Wiederaufbau? Es wäre an Netanjahu, das zu beantworten. Sie sagen, eine rote Grenze wäre die Vertreibung der Palästinenser. Im Westjordanland geschieht das - Israel hat 22 illegale Siedlungen anerkannt. Zwei Drittel des Gazastreifens sind von Israel besetzt. Der nördliche Streifen wird entvölkert. Letzte Woche wurde bekannt, dass die israelische Regierung Milizen im Gazastreifen bewaffnet. Das hat Netanjahu selbst erklärt. Wenn Frieden das Ziel ist, ist das nicht nachvollziehbar.

Das Vorgehen Israels im Gazastreifen halte ich für legitim. Wenn man angegriffen wird, muss man militärisch antworten dürfen.
Chris rihm Vorsitzender Deutsch-Israelische Gesellschaft Rhein-Neckar/Mannheim

Sie beide wollen eine Zwei-Staaten-Lösung. Ist die überhaupt noch realistisch?

Cademartori: Die Regierung Netanjahu ist kein Partner mehr für eine Zwei-Staaten-Lösung. Das können wir aus Deutschland heraus aber nur bedingt ändern, weil die Regierung demokratisch legitimiert ist. Aber wir können zumindest Schritte unternehmen, um zu verhindern, dass die Grundlage entzogen wird, dass es einen palästinenschen Staat in Zukunft geben kann. Ich kann nur feststellen, dass die rechte Regierung in Israel ihr politisches Handeln und ihre Rhetorik sehr klar darauf ausrichtet, ein Zusammenleben mit den Palästinensern nicht zu ermöglichen.

Herr Rihm, Sie haben sich mehr Engagement von arabischen Staaten bei der Flüchtlingsaufnahme gewünscht. Bislang ist das kaum passiert.

Rihm: Das ist richtig. Ich habe kein Verständnis dafür, dass man bei einer kriegerischen Auseinandersetzung die Grenze zumauert, um es mal höflich zu formulieren. Nichts anderes machen Ägypten und Jordanien derzeit und hindern damit Menschen an der Flucht. Das halte ich für extrem schwierig. Ich sehe auch die Gefahr nicht, dass Palästinenser nach einer Flucht nicht mehr zurückkehren können.

Cademartori: Das ist die historische Erfahrung vieler Palästinenser.

Rihm: Weil wir bis jetzt nie wirklich Frieden in der Region hatten. Wir brauchen eine Friedenslösung, die aber nur militärisch zu erzielen ist. Politisch haben es die letzten Jahrzehnte alle probiert – es ist alles gescheitert. Wir brauchen die Zerstörung der Hamas. Wir müssen den Gazastreifen komplett neu aufbauen. Natürlich aber nicht so wie Donald Trump es vorgeschlagen hat. Das ist absurd. Wir brauchen eine neue Struktur in Gaza. Und wir müssen auch das Westjordanland mit einbeziehen. Dann können Palästinenser dort auch wieder vernünftig leben.

Aber der Gazastreifen wird auf Jahre, vielleicht Jahrzehnte überhaupt nicht mehr bewohnbar sein.

Rihm: Das ist richtig. Da wird es internationale Anstrengungen von allen demokratischen Staaten brauchen. Man muss den Gazastreifen neu aufbauen, so wie es nach dem Zweiten Weltkrieg auch in größerem Umfang hier passiert ist. Es wird nur gemeinsam gehen. Dann glaube ich an eine friedliche Koexistenz. Wir müssen das Bildungssystem reformieren. Wenn man sich anschaut, wie Menschen von Geburt an von der Hamas indoktriniert werden, ist das, was am 7. Oktober passiert ist, das Ergebnis. Das wird ein harter Prozess. Ich sehe aber keine andere Lösung.

Cademartori: Natürlich muss es den Wiederaufbau geben. Ich habe auch eine Wiederaufbau-Konferenz gefordert, an der sich Deutschland aktiv beteiligt. Aber zuerst mal müssen wir verhindern, dass noch mehr Kinder verhungern. Oder Gliedmaßen verlieren. Das ist das, was aktuell passiert, und das ist keine Grundlage für Frieden. Da können wir noch so viele Bildungssysteme etablieren. Seit anderthalb Jahren gibt es keine Bildung. Das, was in Gaza passiert, ist doch Nährboden für die Radikalisierung der kommenden Jahre. Deshalb muss es sofort aufhören. Jedes tote Kind ist eines zu viel. Das wird nachwirken.

Isabel Cademartori und Chris Rihm

  • Isabel Cademartori wurde 1988 in Brandenburg geboren. 1989 zog die Familie für elf Jahre nach Chile , die Heimat des Vaters.

  • 2007 kam sie nach Mannheim, studierte BWL und Wirtschaftspädagogik . Danach arbeitete Cademartori als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität.

  • 2013 trat sie in die SPD ein. Zunächst engagierte sie sich in der Innenstadt als Bezirksbeirätin. 2019 wurde Cademartori in den Gemeinderat gewählt. Den Sitz darin gab sie auf, nachdem sie 2021 als Wahlkreissiegerin in den Bundestag eingezogen war. 2025 zog sie erneut in den Bundestag ein , verlor aber ihr Direktmandat.

  • Chris Rihm wurde 1977 geboren. Während der Schulzeit am Elisabeth-Gymnasium machte er die Ausbildung zum Sanitäter .
  • Der Fachwirt für Sozial- und Gesundheitswesen war lange Einsatzleiter Rettungsdienst für die Stadt und ist einer der Notfallseelsorger der Stadt .
  • Rihm sitzt seit 2020 der DIG Rhein-Neckar/Mannheim vor . Er war 25 Jahre lang in der CDU. Seit 2021 ist er Grüner und stellvertretender Fraktionsvorsitzender im Gemeinderat. Er kandidiert außerdem bei der Landtagswahl für die Grünen im Mannheimer Norden. seko/sma

Israels Sicherheit ist deutsche Staatsräson, Frau Cademartori. Sie fordern, die militärische Unterstützung für Israel zu beenden. Israel hat doch aber nach dem 7. Oktober 2023 und den danach anhaltenden Beschuss – auch aus dem Libanon, auch von den Huthis aus dem Jemen – sowie dem Iran, der Israel vernichten will, berechtigte Sicherheitsinteressen, die gefährdet sind. Greifen Sie diese Interessen nicht an, wenn Sie ein Ende der militärischen Unterstützung fordern?

Cademartori: Als Deutschland haben wir eine Verantwortung für das Existenzrecht Israels. Dazu bekenne ich mich ohne jeden Zweifel. Und um das auch zu dokumentieren: Ich verurteile eindeutig den 7. Oktober und habe das auch vor anderthalb Wochen im Bundestag noch einmal getan. Ich spreche Israel das Selbstverteidigungsrecht nicht ab. Es geht aber um die Verhältnismäßigkeit. Wir dürfen doch unsere Werte, die wir außerdem noch vertreten – wozu nun mal die Anerkennung des Völkerrechts, des Internationalen Strafgerichtshofs und der internationalen Ordnung gehören –, nicht hinter dieser Staatsräson anstellen. Es ist gerade doch eklatant und offensichtlich, dass wir Doppelstandards beim Völkerrecht anwenden. Das wird unserer historischen Verantwortung nicht gerecht. Ich sage deutlich: Israel hat ein Sicherheitsbedürfnis. Aber auch die Palästinenser haben ein Recht auf Sicherheit, Leben und Selbstbestimmung. Wir müssen einen Ausgleich zwischen diesen beiden Bedürfnissen schaffen.

Aber nochmal: Israel ist von Feinden umgeben, die das Land im Zuge des 7. Oktober auch militärisch mehrfach angegriffen haben. Wie kann man das Existenzrecht Israels aus Deutschland heraus verteidigen, wenn nicht mit militärischer Unterstützung? Wie hoch ist die Gefahr, dass Israel wieder angegriffen wird, wenn die Regierung die Kampfhandlungen einstellt?

Cademartori: Aus dem Gazastreifen?

Und von anderen Feinden. Aus dem Libanon, dem Jemen, dem Iran.

Cademartori: Das kann ich nicht beantworten. Es geht nicht nur darum, Kampfhandlungen einfach einzustellen, sondern einen politischen Prozess zur Lösung dieses Konflikts zu beginnen. Dann müssen wir mit internationalen Organisationen und den kooperativen arabischen Staaten, die es gibt, einen Prozess auf den Weg bringen, der eine Koexistenz zwischen Palästinensern und Israel gewährleistet. Solche Prozesse erleiden auch Rückschläge, aber es ist alternativlos. Mehr Krieg, Zerstörung und töten wird kein Frieden für Israel oder Palästina bringen. Ob sich die Sicherheitslage für Israel nach dem Angriff auf den Iran verbessert oder verschlechtert hat, wird sich zeigen. Am Montagmorgen hat der Verteidigungsminister getweetet, nachdem in unserer Partnerstadt Haifa Menschen von iranischen Raketen getötet wurden, dass die Bewohner Teherans das zu spüren bekommen werden. Eine schlimme Eskalation ist zu befürchten – mit zivilen Opfern auf beiden Seiten. Israel hat sich für diesen präventiven Militärschlag entschieden. Auch um das klarzustellen: Natürlich sollte der Iran keine Atombombe haben. Und natürlich wäre es gut, wenn das Mullah-Regime weg wäre. Und dennoch poche ich auf die Einhaltung des Völkerrechts. Denn wenn es keine internationalen Regeln mehr gibt und sich niemand mehr ans Völkerrecht hält, dann gilt nur das Recht des Stärkeren. Das bedeutet für die ganze Welt mehr Unsicherheit, mehr Aufrüstung, mehr Krieg. Auch für Israel.

Rihm: Das Völkerrecht darf aber nicht immer nur zu Lasten Israels diskutiert werden, Frau Cademartori. Israel hat nachweislich in den ersten Angriffswellen militärische Ziele im Iran bombardiert. Der Iran hat in Tel Aviv und Haifa nachweislich keine militärischen, sondern zivile Ziele angegriffen. Am 7. Oktober hat die Hamas mit Verbündeten nachweislich zivile Ziele angegriffen und Menschen ermordet – Israel hat reagiert. Dass präzise Angriffe im Gazastreifen nur bedingt funktionieren, haben mittlerweile alle verstanden.

Ich halte das Vorgehen der israelischen Armee nicht für legitim und gerechtfertigt. Das ist klar völkerrechtswidrig. Das ist nicht meine persönliche Einschätzung, sondern die von nahezu jeder internationalen Hilfsorganisation, der UN und vom Internationalen Strafgerichtshof.
Isabel Cademartori Mannheimer SPD-Bundestagsabgeordnete

Sehen Sie Doppelstandards, der sich die deutsche Politik laut Frau Cademartori schuldig macht, auch?

Rihm: Die gibt es in allen Kriegen. Ich sehe doppelte Standards – aber aus anderer Perspektive. Ich würde mir ein ähnlich großes Engagement von Politikern wünschen, wenn es um die Bewertung von kriegerischen Auseinandersetzungen in anderen Regionen geht. Ich denke da an den Bürgerkrieg in Syrien, in dem mehr Menschen ihr Leben verloren haben. Oder an den Sudan. Dafür interessiert sich niemand. Und bei Israel fangen wir jetzt wieder mit den Doppelstandards an. Natürlich ist es schwierig, Krieg mit Krieg zu vergleichen. Aber ich habe hier auch noch niemanden gesehen, der für den Sudan auf die Straße gegangen ist. Beim Krieg in Syrien war es damals auch sehr überschaubar. Auch bei anderen Kriegen war der Umfang der Proteste wesentlich geringer. Wenn wir wirklich sagen, jedes Menschenleben zählt gleich viel, egal ob Syrer, Libanese, Palästinenser, Israeli, Russe, Sudanese oder Ukrainer, müssten wir auch alle gleich behandeln. Das tun wir nicht.

Cademartori: Das halte ich für eine Nebelkerze und für einen oft erhobenen Vorwurf, der nicht zutrifft. Der Unterschied zu diesem Konflikt und weshalb die öffentliche Reaktion darauf teilweise eine andere ist, liegt darin, dass Israel unser Partner und Freund ist. Russland ist nicht unser Partner, Syrien auch nicht. Wir unterstützen auch eindeutig die Ukraine. Übrigens aus denselben völkerrechtlichen Erwägungen.

Russland allerdings war Partner.

Cademartori: Darüber, dass das ein Fehler war, wird ja offen diskutiert. Ich will Israel und Russland aber nicht vergleichen, weil das immer schwierig und unpassend ist. Über dem Nahost-Konflikt schwebt doch die Frage, wie wir eigentlich mit einem Partner umgehen, der auch nicht auf Ratschläge von uns hört. Die Worte, die wir finden, werden deutlicher und noch deutlicher. Und die Handlungen von Israel entwickeln sich in die genau andere Richtung als wir anmahnen. Gerade vor dem Hintergrund unserer Verantwortung für das Existenzrecht Israels gibt es deshalb in dieser Diskussion einen großen gesellschaftlichen Spagat und ein Unwohlsein.

Bei der Anerkennung des Existenzrechts Israels, bei der Forderung nach der Freilassung aller Geiseln sowie in der Hoffnung auf nicht noch mehr zivile Tote sind Rihm und Cademartori einer Meinung. © Pressefotoagentur Thomas Tröster

Sollte Deutschland seine militärische Unterstützung für Israel einstellen, wie es Frau Cademartori fordert?

Rihm: Man kann das Vorgehen der israelischen Politik verurteilen. Ich habe die israelische Regierung auch schon kritisiert, auch wenn ich das militärische Vorgehen für richtig halte. Man kann Waffenlieferungen an Israel einstellen lassen. Da gibt es unterschiedliche Auffassungen, ob das zielführend ist oder nicht. Ich habe mich in Diskussionen gegen eine Einstellung von Waffenlieferungen ausgesprochen – aus all den Gründen, die wir erörtert haben. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass das ein Krieg der Bilder und der Informationen ist. Nicht jedes vermeintlich offizielle Bild und nicht jede vermeintlich offizielle Zahl stimmt. In diesem Krieg – und darin unterscheidet er sich von anderen – wird mit viel Desinformationen und durch KI erstellte Propaganda gearbeitet.

Cademartori: Das stimmt. Es gibt auf beiden Seiten Versuche, die Meinung zu lenken. Aber woran liegt es, dass man aus der Ukraine mehr gesicherte Informationen bekommt als aus Gaza? In die Ukraine darf internationale Presse, nach Gaza nicht. Das ist das Problem. Man kann beklagen, dass Desinformationen Meinungen bilden. Aber eine neutrale Berichterstattung kann ja gar nicht stattfinden, weil Israel keine internationale Presse nach Gaza lässt. Wenn das Vorgehen Israels mit dem Völkerrecht vereinbar ist, wie die DIG es behauptet, frage ich mich, warum keine internationale Presse in den Gazastreifen darf.

Hat Frau Cademartori da einen Punkt?

Rihm: Sie hören mich nicht widersprechen. Dass wir Desinformation auf beiden Seiten haben, ist in jedem Krieg so. Dass im Gazastreifen keine Presse arbeiten darf, halte ich für schwierig. Wir wissen, dass in der Ukraine Journalistinnen und Journalisten unter Einsatz ihres Lebens nach der Wahrheit suchen. Das sollte in Gaza auch möglich sein. Nur so können neutrale Informationen entstehen.

Ich würde mir ein ähnlich großes Engagement von Politikern wünschen, wenn es um die Bewertung von kriegerischen Auseinandersetzungen in anderen Regionen geht.
Chris Rihm Vorsitzender Deutsch-Israelische Gesellschaft Rhein-Neckar/Mannheim

Wie nehmen Sie, Frau Cademartori, als Bundestagsabgeordnete die Auswirkungen des Kriegs auf Mannheim wahr?

Cademartori: Der Krieg hat die Stadtgesellschaft verletzt. Wir haben einen großen Anteil muslimischer Mitbürgerinnen und Mitbürger, die emotional betroffen sind. Gleichzeitig eine jüdische Gemeinde, die das auch ist. Wir dürfen, bei aller kritischen Diskussion über diesen Konflikt, Antisemitismus keinen Raum geben. Jüdinnen und Juden dürfen sich nicht unsicher fühlen. Ich beobachte außerdem, dass – so wie vor Ort im Nahen Osten – teilweise wenig Verständnis und Empathie für die jeweils andere Seite vorhanden ist. Mannheim hat sich zu einem Zentrum der Demonstrationen entwickelt, bei denen ich nicht ganz überblicken kann, woher die Protagonisten kommen. In Mannheim wird ein Stück weit der Konflikt für die ganze Region ausgetragen. Viele junge Menschen sehen Israels Vorgehen sehr kritisch und sind solidarisch mit der Zivilbevölkerung in Gaza. Sie finden sich in den teils extremen Demonstrationen aber nicht unbedingt wieder oder möchten mit denen nicht in Verbindung gebracht werden. Ich habe noch keine Demonstration in Mannheim selbst erlebt, kenne aber die Kritik daran und würde mich persönlich diesen Demonstrationen zum jetzigen Zeitpunkt auch nicht anschließen.

Warum?

Cademartori: Weil ich nicht genau weiß, mit wem ich da mitlaufen würde und ob ich mich damit möglicherweise problematischen Gruppierungen anschließen würde. Wir haben aber zum Glück auch noch keine Bilder aus Mannheim gesehen, wie wir sie aus Berlin kennen, wo propalästinensische Demonstrationen regelmäßig in gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei enden. Ich finde das umsichtige, deeskalierende Vorgehen unserer Polizei hier richtig.

Über dem Nahost-Konflikt schwebt die Frage, wie wir eigentlich mit einem Partner umgehen, der auch nicht auf Ratschläge von uns hört.
Isabel Cademartori Mannheimer SPD-Bundestagsabgeordnete

Wie erleben Sie die Gefühlslage unter Mitglieder der DIG in Mannheim, Herr Rihm?

Rihm: Als sehr emotional. Wir haben eine enge Verbindung zu unserer Partnerstadt Haifa. Viele Mitglieder haben dort Freunde oder Verwandte. Da spüren wir, dass seit Freitag die Einschläge in die persönlichen Lebenswelten immer näherkommen. Wir machen uns auch Gedanken darüber, welche Auswirkungen die letzten Tage auf Mannheim haben. Seit Monaten nimmt die Angst zu. Das betrifft mittlerweile nicht nur Jüdinnen und Juden, sondern auch andere Mitglieder der DIG, wenn sie mit sichtbaren Symbolen, die man mit Israel oder Judentum assoziieren kann, durch die Innenstadt laufen. Bis vor sechs, sieben Wochen war das noch weniger kompliziert. Vor drei Wochen sind wir nach einer Palästina-Demonstration zur Abendakademie gelaufen, um dort den ESC zu schauen. Wir sind von einer Gruppe angegriffen worden und mussten die Polizei rufen, damit die Situation nicht noch weiter eskaliert als sie es schon war. Wir erleben regelmäßig, dass auf Demonstrationen auf Mannheims Straßen Israel ganz offen das Existenzrecht aberkannt wird, dass gegen Auflagen verstoßen wird, dass Hass und Hetze gesät werden. Natürlich haben wir noch keine Bilder wie aus Berlin erlebt. Wenn die Polizei aber nicht mit immer stärkeren Kräften vor Ort wäre, würden Mitglieder der DIG, die den Zug am Rande begleiten, Gewalt erleben. Wenn uns früher zwei bis drei Beamte geschützt haben, sind das inzwischen sehr viel mehr.

Cademartori: Es muss klar sein, dass es legitim ist, mit Demonstrationen auf die Lage der Palästinenser aufmerksam zu machen …

Rihm: … absolut.

Cademartori: Aber man muss sich an Auflagen halten. Die müssen kontrolliert und auch durchgesetzt werden. Das ist eine berechtigte Forderung derjenigen, die auf der politisch anderen Seite stehen. Ich halte es aber für wichtig, dass wir – wie heute – einen legitimen Raum für Debatten finden. Ich persönlich habe als jemand, der schon früh Israel für sein Vorgehen in Gaza kritisiert hat, empfunden, dass es diesen Raum lange nicht gab. Das kann auch dazu führen, dass auf beiden Seiten Radikalisierungen entwickeln, die ein Zusammenkommen noch schwerer machen. Man muss inhaltlich nicht zusammenkommen, aber man muss einen Raum bekommen, unterschiedliche Ansichten respektvoll auszutauschen. Da ist es nicht hilfreich, wenn die eine Seite Menschen vorschnell als Antisemiten abstempelt und die andere Seite Menschen bepöbelt, die Israel-Fahnen oder andere Symbole tragen.

Rihm: Diesen Ball spiele ich den Organisatoren der Demonstrationen gerne zu. Bislang haben wir aber erlebt, dass sich die palästinensische Seite dieser öffentlichen Diskussion in einem anständigen Rahmen verweigert. Auf Demonstrationen wird das nicht funktionieren. Man kommt nur zusammen, wenn das beide Seiten wollen. Ich stehe für eine solche Diskussion zur Verfügung. Das habe ich immer deutlich gesagt.

Redaktion Reporter in der Lokalredaktion Mannheim & Moderator des Stotterer-Ppppodcasts

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