Soziales

Gegen das große Vergessen - Alzheimer Gesellschaft Mannheim löst sich auf

Die Alzheimer Gesellschaft Mannheim löst sich auf. Ihre Vorsitzende Sabine Schulz hat keine Nachfolge gefunden

Von 
Waltraud Kirsch-Mayer
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Sabine Schulz hat unter anderem Workshops in Mannheimer Schulen geleitet, hier 2015 am Ursulinengymnasium. © Markus Prosswitz

Mannheim. „Alzheimer – wo dieses Wort fällt, tritt Betroffenheit und Ratlosigkeit auf.“ Mit dieser Erfahrung stellt sich Sabine Schulz auf der Homepage der Alzheimer Gesellschaft Mannheim vor. Als Vorsitzende des von ihr initiierten Vereins hat sie 15 Jahre lang unzählige Angehörige unterstützt, ein Beratungsnetzwerk aufgebaut und Konzepte für Workshops entwickelt – sowohl für Pflegekräfte wie für Schulklassen. Am 31. Dezember 2022 wird „die Alzheimer Gesellschaft Mannheim – Selbsthilfe Demenz “ aufgelöst. Grund: Die Mittsiebzigerin hat keine Nachfolge für den Vereinsvorsitz gefunden.

Die engagierte Pensionärin, die aus gesundheitlichen Gründen kürzertreten will, erzählt, dass nicht nur sie vergeblich nach einer Frau oder einem Mann für die Vereinsspitze gesucht hat. Auch für den Schatzmeister Werner Vogt fand sich keine Nachfolge. Und so hat die Mitgliederversammlung die Auflösung beschlossen. Sabine Schulz spricht von einem „eisigen Wind des Desinteresses“ – auch bei der Stadt. Sie bedauert, dass das gerontopsychiatrische Forum als „mutmachendes und zielführendes Pflänzchen“ nicht gehegt und gepflegt worden sei.

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Die verheiratete Wahl-Mannheimerin und Mutter eines erwachsenen Sohnes, die früher im Frankfurter Max-Planck-Institut arbeitete, hat die Krankheit des großen Vergessens, das schleichend das „Ich“ auflöst, aus vielen Blickwinkeln betrachtet. Auch weil sie in engem Kontakt zu dem ehemaligen Direktor der Psychiatrischen Uniklinik Frankfurt stand: Konrad Maurer fand 1995 im Keller seiner Wirkungsstätte die verschollen geglaubte Krankenakte der ersten Patientin mit jener Hirn-Erkrankung, die später den Namen Alzheimer bekommen sollte.

Familien oft hilflos

Eben dieser Arzt, Alois Alzheimer, hat die Untersuchungsberichte von Auguste Deter, die 1901 in die städtische „Anstalt für Irre und Epileptische“ eingewiesen worden war, penibel dokumentiert. Das handschriftlich festgehaltene Gespräch mit dem Ehemann offenbart, dass der 51-jährigen Patientin nicht nur Worte abhandengekommen waren – und sie deshalb Tassen als Milchgießer oder Messer als Brotschneider bezeichnete. Der Eisenbahnangestellte erzählte, dass sich seine Frau zunehmend merkwürdig verhalte und beispielsweise Abfall in den Brotkorb stopfe oder Schmutzwäsche sorgsam zusammengelegt im Schrank verwahre.

Als Sabine Schulz mehr als ein Jahrhundert später Pilot-Workshops in Schulen umsetzte, ließ sie häufig den Beginn der weltberühmten Krankenakte vorlesen: „Wie heißen Sie?“ – „Auguste“ – „Familienname?“ – „Auguste“ – „Wie heißt Ihr Mann?“ – „Ich glaube Auguste.“

„Für eure Generation wird der Umgang mit Alzheimer-Betroffenen zur großen Herausforderung“, lautete eine der Botschaften von Sabine Schulz. Bei den etwas anderen Unterrichtseinheiten ging es vor allem darum, wie jeder Einzelne, auch Enkel oder Enkelin, mit einem Menschen umgehen sollte, der nicht nur die Orientierung bei Zeit und Raum verloren hat, sondern obendrein die Fähigkeit, Gefühle wie Ängste auszudrücken.

Selbsthilfegruppe für Angehörige

  • Die offene Selbsthilfegruppe für Angehörige, die einen Menschen mit Alzheimer betreuen oder pflegen, trifft sich jeden ersten Mittwoch eines Monats in Räumen der Christuskirche, Oststadt Werderplatz 6.
  • Den Erfahrungsaustausch leitet Sabine Schulz (Telefon: 0621 74 48 64) .
  • Folgende Treffen jeweils von 10 bis 12 Uhr stehen fest: 4. Januar, 1. Februar, 1. März und 5. April 2023. Die Teilnahme ist kostenfrei. wam

 

Wie hilflos Familien solchen Situationen gegenüberstehen, drückte ein Zwölftklässler so aus: „Das Schlimmste ist, wenn jemand noch lebt, aber irgendwie gar nicht mehr da ist“ – gemeint war die Oma, die erst die Enkel und später auch nicht mehr ihre Söhne erkannte. Ob Sabine Schulz Workshops für Schulklassen oder für Menschen, die in Kliniken oder Heimen arbeiten, mit viel Alltagspragmatismus entwickelte, stets lag ihr das Beibehalten von Respekt und Würde am Herzen – aber ohne jegliche Beschönigung der Krankheit.

Wenn sie zurückblickt, gibt es so manche Ereignisse, die ihr besonders im Gedächtnis geblieben sind: Sabine Schulz erzählt, wie sie beim großen Urologen-Kongress im Rosengarten auf Bitte von Maurice Stephan Michel, Chef der Mannheimer Uni-Fachklinik, eine Fortbildung zum Umgang mit dementiell erkrankten Patienten und Patientinnen anbot. „Das war toll – auch weil die Resonanz so riesig war.“ Bei persönlichen Beratungsgesprächen, ob am Telefon oder im Café, stand häufig im Mittelpunkt, welches Pflegeheim in Frage kommt, wenn bei fortgeschrittener Demenz die Familie oder manchmal auch nur eine einzige nahe stehende Person an Grenzen und darüber hinaus gerät.

Sabine Schulz kennt die stationären Einrichtungen in der Region und weiß, wo Pflege so abläuft, dass ein Druckgeschwür (Dekubitus) erst gar nicht entsteht oder sofort behandelt wird. Sie hat außerdem stets dafür plädiert, die „Pflege“ der abgeschotteten Seele nicht aus dem Blick zu verlieren. Deshalb gibt sie bis heute den Rat, sich zu erkundigen, ob zu einem Heim-Team eine gerontopsychiatrische Fachkraft gehört.

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Veränderte Bedürfnisse

Häufig ging es auch darum, Angehörigen klar zu machen, dass nicht sie, sondern Alzheimer-Betroffene sich wohlfühlen müssen. Sabine Schulz erinnert sich noch gut daran, wie eine Ehefrau bei einem Besuch empört reagierte, weil ihr Mann unvollständig rasiert worden war und deshalb in einer Gesichtshälfte noch Bartstoppeln prangten. Die Rücksprache mit dem Pflegeteam ergab, dass der sehr unruhige Bewohner des Öfteren selbst bei gutem Zureden nur kurz stillzuhalten vermochte – weshalb an solchen Tagen die Bartpflege in Etappen erfolgte, um ein Festhalten oder gar Anschnallen zu vermeiden. Die Ehefrau habe sich schwergetan, zu akzeptieren, dass ihr Mann, der früher nur feinste Anzüge trug, inzwischen andere Bedürfnisse hatte – eine Rasur, für die es mehrere Minuten auszuharren galt, gehörte nicht dazu.

Auch wenn ab 2023 die Alzheimer Gesellschaft Mannheim der Vergangenheit angehört, so ist nicht mit allem Schluss. Sabine Schulz bietet jenseits des Vereins eine Selbsthilfegruppe für Angehörige.

Freie Autorin

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