Mannheim. Die Stimmung in Wismar ist aufgeladen. Aktivistinnen und Aktivisten der Antifa stehen vor dem „Werwolfshop“, an dessen Eingang fünf Männer warten. Neonazis. Sie betreiben den Laden, ein Treffpunkt der rechtsextremen Szene Wismars. Einer der Männer - mit einem engen Shirt bekleidet, das die auffälligen und vielen Tattoos sowie die Glatze noch stärker zur Geltung bringen - grinst der Antifa hämisch entgegen. Ein zweiter Mann, etwas kleiner, beschimpft sie. Es kommt zu Rangeleien. Die Neonazis schnappen sich Baseballschläger. Gebrüll. Polizistinnen und Polizisten ziehen und entsichern ihre Pistolen. Zielen auf die bewaffnete Neonazis.
„Hätte ich in dem Moment einen Schritt nach vorne gemacht, hätten sie auf mich geschossen“, beschreibt Philip Schlaffer am Ludwig-Frank-Gymnasium (LFG) die Situation in dem Video. Der Mann, der im August 2006 so hämisch gegrinst hat, steht heute vor etwa 100 Jugendlichen der 9. Klassen. Die Glatze ist kurzen Haaren gewichen. Auch das eine oder andere Tattoo ist noch dazugekommen. Statt des schwarzen Shirts trägt Schlaffer nun ein blaues Hemd. „Ich stehe hier als Täter vor euch.“
Einer der prägenden Männer der mecklenburgischen Rechtsextremisten
Seitdem der Mann mit dem markanten norddeutschen Dialekt den Ausstieg geschafft hat, spricht Philip Schlaffer für den Verein Extremislos an Schulen über seine Karriere, die ihn zeitweise zu einem der prägenden Männer der mecklenburgischen Rechtsextremisten gemacht hat. „Ich habe mit 14, 15 Jahren angefangen, Juden zu hassen“, sagt er. „Bis ich 40 Jahre alt war, habe ich keinen einzigen Juden gekannt.“
„Philosophisches Café“ nennt das LFG die Reihe, in der Menschen mit Jugendlichen zu gesellschaftlichen Themen diskutieren - eigentlich mit der Kursstufe. Heute aber sind neunte Klassen im Theatersaal. „Jugendliche können in diesem Alter zum ersten Mal mit Neonazis in Berührung kommen“, erklärt Schulleiter Stefan Weirether dieser Redaktion, warum das Publikum jünger ist.
Schlaffer ist bereits zum zweiten Mal am LFG. Auf beeindruckende Weise erzählt er, wie er zum Rechtsextremisten wurde. Er spricht über Stockelsdorf, den gut-bürgerlichen Vorort Lübecks, in dem er eine „normale Kindheit“ verbringt, die nichts mit vermeintlichen Klischees zu tun hat, nach denen Rechtsextreme schon als Kind mit Drogen, Vernachlässigung oder Missbrauch zu tun haben. Schlaffer spricht über seinen Freundeskreis, seinen Fußballverein und über den Leistungsdruck durch seine Eltern, mit dem er es aber aufs Gymnasium schafft.
Wie Philip Schlafner Zugang zum Rechtsextremismus findet
Als die Familie dann aber nach England zieht, ist er plötzlich Außenseiter. „Der deutsche Junge“, vor dem vom Weltkrieg geprägte Eltern ihre Kinder warnen. Als er sich endlich zurechtfindet, zieht die Familie zurück nach Deutschland. Wieder ist Schlaffer, dessen Freundeskreis ihn nicht mehr integrieren kann, der Außenseiter, dessen Leistungen abfallen. „In England war ich ein super Schüler - in Deutschland bin ich über Nacht dumm geworden.“
Der Pubertierende fängt an zu hassen. Erst seinen Vater, weil der für die Umzüge verantwortlich war. Dann seine Mutter, „weil die zu meinem Vater gehalten hat“. Dann seine Schwester, die weiter gute Noten schreibt und Freunde hat. „Ich habe mich allein gefühlt und hassen gelernt. Hass kann man lernen - man kann Hass aber auch verlernen.“
Schlaffer wird gewalttätig und findet über Musik Zugang zum Rechtsextremismus. Zu neuen Freunden, die seine Kameraden werden. „Ich bin da nicht reingerutscht, sondern wollte dazugehören“, sagt er. „Heute wird solche Musik über TikTok verteilt. TikTok ist die Hauptplattform für Rechtsextremisten.“ Die Musik schürt Hass auf Juden, Hass auf Muslime, Hass auf Polizei, Hass auf Homosexuelle, Liberale oder Demokraten. Aus dem Hass wird eigene Stärke. „Wir haben alle gehasst.“
Auch beim Gassigehen eine Waffe dabei
Schlaffer - der mit einer fast merkwürdigen Mischung aus norddeutschem Charme, Humor und Autorität auftritt - dringt immer tiefer in die Szene ein. Auf einem Bild sieht man ihn als jungen Mann mit einer Kalaschnikow posieren. Detailliert schildert der heute 45-Jährige, wie er nach Mecklenburg-Vorpommern kommt, mit der „Kameradschaft Werwolf“ Wismar terrorisiert oder dort ein „nationales Wohnprojekt“ gründet. Schockierend seine Darstellung, als seine Kameraden während einer Party im Streit um Musik einen Mann zu Boden prügeln und erstechen. Wer ein Messer trägt, wolle dies auch benutzen, sagt Schlaffer. „Wir waren Tiere. Wir haben alles entmenschlicht.“

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Er berichtet von Hausdurchsuchungen und von einem Überfall auf ihn. Irgendwann, so sagt er, habe er selbst beim Gassigehen eine Waffe bei sich gehabt. „Je öfter man eine Waffe trägt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass man selbst irgendwann in den Lauf einer Pistole schaut.“ Er übt Kritik an zu milden Strafen, berichtet über gefühlte Triumphe nach Urteilen auf Bewährung anstatt auf Haftstrafen und über seine Zeit als Rockerboss.
Familie als rettender Hafen
Schlaffers Schilderungen sind präzise - auf makabere Weise sind sie spannend und packend. Indem er die Jugendlichen mit Fragen einbindet, arbeiten beide Seiten heraus, was ihn angetrieben hat: Frustration, Gruppenzwang, Angst vor Herabwürdigungen in der Gruppe, vor allem aber Hass. Der Vortrag wühlt auf, hallt nach.
Durch die Detailtiefe aber fehlt Zeit, ausführlicher über den Ausstieg zu sprechen. Verhältnismäßig kurz erzählt Schlaffer über die Zeit in der JVA, in der sich eine Seelsorgerin um ihn kümmert, über psychische Probleme, die ihn zum Ausstieg aus der Szene und als gebrochener Neonazi zurück in die Arme seiner Familie getrieben haben. Angesichts dessen, was zuvor mehr als eine Stunde lang zu hören war, klingt das fast kitschig. Dennoch: Die Familie als rettender Hafen, als Anker auch nach Jahren der Distanzierung - noch so eine Botschaft für die Jugendlichen.
„Wollte die Freiheit abschaffen“
Schlaffer hält schließlich ein Plädoyer für die Demokratie. Es beihaltet viel Pathos - vielleicht braucht es aber auch genau das nach diesem Vortrag. Man müsse die Freiheit der Demokratie schätzen. „Jemand wie ich wollte diese Freiheit abschaffen.“ Er motiviert, Dinge zu hinterfragen, sich aber nie zu Hass aufstacheln zu lassen. „Ihr dürft scheitern, wenn ihr aufsteht und danach noch besser scheitert.“ Jugendliche sollten nie das Gefühl haben, weniger wert zu sein. Sich in Krisen Hilfe zu suchen - ein Zeichen von Stärke.
Weitgehend offen bleibt, wie es gelingt, sich nicht nur von Weggefährten, sondern auch von einer 20 Jahre lang verfolgten Ideologie als Neonazi zu trennen. „Das ist sehr, sehr schwer“, antwortet Schlaffer im kurzen Vorgespräch mit dieser Redaktion zwar. Das aber hören die Jugendlichen nicht. Vielleicht ist das ein Anknüpfungspunkt für einen weiteren Vortrag am LFG. Bekanntlich sind ja aller guten Dinge drei.
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