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Aufnahme von Geflüchteten in Mannheim: „Zwangslage besteht noch“

Wie geht es mit der belegten Lilli-Gräber-Halle weiter? Jens Hildebrandt, der in Mannheim für die Koordinierung von Geflüchteten zuständig ist, spricht über die Pläne der Stadt und einen Vorfall in der Halle

Von 
Sebastian Koch
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© Christoph Blüthner

Mannheim. Herr Hildebrandt, vor einem halben Jahr hat das Land mitgeteilt, dass Mannheim in diesem Jahr bis zu 2000 Geflüchtete zugewiesen bekommt. Wie viele sind schon in Mannheim?

Jens Hildebrandt: Wir haben seit Jahresbeginn etwas mehr als 410 zugewiesene Menschen aufgenommen. Im Februar haben wir, wie angekündigt, das Gespräch mit dem Land noch einmal gesucht, um zu klären, wie es mit dem Standort der Landeserstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete (LEA) in Mannheim weitergeht. 2020 hatte das Regierungspräsidium den Betrieb der LEA wegen Sanierungsarbeiten eingestellt. Als Standort einer LEA musste die Stadt selbst keine Geflüchteten aufnehmen, weshalb wir keine eigenen Aufnahmekapazitäten aktiviert haben. Der ursprünglich für Herbst 2022 geplante Abschluss der Sanierungsarbeiten verschiebt sich. Deshalb erhält Mannheim in den kommenden Monaten Zuweisungen im vollem Umfang.

Was haben diese Gespräche gebracht?

Hildebrandt: Mir ist wichtig zu betonen, dass sich das Land kooperativ zeigt und wir auch deshalb weitergekommen sind. Das Land hat uns zugesagt, dass wir zum Ende des Jahres wieder eine Teilanrechnung des LEA-Privilegs bekommen. Das geschieht unabhängig davon, ob die Einrichtung in der Pyramidenstraße dann schon wieder geöffnet wird. Baufortschritte sind nicht immer kalkulierbar.

Was bedeutet das?

Hildebrandt: Wir haben vereinbart, dass Mannheim ab nächstem Jahr 25 Prozent weniger Geflüchtete zugewiesen bekommt, weil wir in der Vergangenheit in Vorleistung getreten sind. Außerdem hat sich das Land dazu bekannt, dass es am LEA-Standort Mannheim festhält. Genaue Details hierzu sind noch in der Abstimmung. Gleichwohl brauchen wir für unsere mittel- und langfristigen Überlegungen Planungssicherheit.

Seit 2021 Fachbereichsleiter

  • Jens Hildebrandt wurde 1971 in Neustadt in Schleswig-Holstein geboren und lebt seit 1993 in Mannheim.
  • Er studierte Politikwissenschaft sowie Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Uni Mannheim und war von 2009 bis 2011 stellvertretender Geschäftsführer der SPD-Gemeinderatsfraktion.
  • Zwischen 2016 und 2018 lebte Hildebrandt in Moskau, wo er stellvertretender Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung war. Anschließend wechselte Hildebrandt zur Stadt Mannheim in den Fachbereich Arbeit und Soziales.
  • Seit April 2021 leitet er den Fachbereich. In dieser Funktion war Hildebrandt Leiter der Ukraine-Taskforce und koordiniert zudem die Verteilung und Unterbringung von Geflüchteten.

Mit wie vielen Menschen, die in dem Jahr noch zugewiesen werden, rechnen Sie jetzt noch?

Hildebrandt: Das Land hatte uns angekündigt, dass wir mit 100 bis 120 Zugängen pro Monat und bis zu 2000 im Jahr rechnen müssen. Das hat sich bislang nicht erfüllt. Wir bekommen derzeit etwa 80 Zugänge pro Monat. Das bedeutet, dass wir für die zweite Jahreshälfte noch mit knapp 500 Personen rechnen.

Sie hatten im Januar mit Blick auf die Unterbringung von einer „Zwangslage“ gesprochen, in der sich die Stadt befinde und deshalb die Lilli-Gräber-Halle belegen musste. Besteht diese Lage noch?

Hildebrandt: Die Zwangslage besteht immer noch. Um die Lilli-Gräber-Halle abmieten zu können, prüfen wir intensiv andere Standorte, bei denen Nutzungskonflikte so gering wie möglich ausfallen. Die Objekte, die wir anmieten wollen, werden uns Kapazitäten für etwa 350 Personen einbringen. Damit haben wir jetzt auch eine Option, aus der Lilli-Gräber-Halle rauszugehen. Wir werden uns aber nicht ganz von Hallen verabschieden können, weil das Land die Unterbringung in Hallen als freie Kapazität sieht. Wir überlegen, wie wir ein Ankunftsmodell entwerfen können, in dem wir nicht in eine dauerhafte Hallenunterbringung, sondern nur in eine temporäre Übergangsphase gehen können. Hallen sind keine gute Unterbringungssituation. Die Aussage haben wir als Verwaltung von Anfang an gemacht - und es hat sich ja auch gezeigt, dass das Konfliktpotenzial in dieser Situation hoch ist.

Sie wollen weitere Objekte zur Unterbringung anmieten. Welche?

Hildebrandt: Wir sprechen von Objekten, die wir zunächst dem Gemeinderat vorstellen. Die Objekte sind über das Stadtgebiet verteilt und in unterschiedlichen Sozialräumen angesiedelt. Darunter sind auch Objekte, die wir im Rahmen der Ukraine-Hilfe genutzt haben. Deshalb gibt es da schon eine Akzeptanz. Für uns war es wichtig, dass es dort für die Menschen die Möglichkeit gibt, vor Ort zu kochen und sich selbst zu versorgen. Ein Verpflegungsservice kann sich an die unterschiedlichen Essensgewohnheiten nicht vollends anpassen.

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Sie sprechen also wieder von Häusern, die früher als Pflegeheime genutzt worden sind?

Hildebrandt: Nein. Aber das war ein netter Versuch (lacht).

Sie haben auf die gewaltsame Auseinandersetzung in der Lilli-Gräber-Halle vor einigen Tagen angespielt, bei der sogar ein Verletzter ins Krankenhaus musste. Wie nehmen Sie die Stimmung in der Halle wahr?

Hildebrandt: Hallen sind immer ein Ort, an dem Konflikte schneller entstehen als anderswo. Deshalb wollen wir die Belegung so gut es geht vermeiden. In Hallen gibt es keine Rückzugsräume. Außerdem sind die Bedürfnisse der Menschen sehr unterschiedlich. Wir haben manchmal junge Leute, die meinen, es sei okay, laute Musik zu hören oder sich extrovertiert zu benehmen. Wir haben andere, gerade Familien, die auch mal Ruhe brauchen. Hallen sind auf eine dauerhafte Unterbringung nicht ausgerichtet. Wir haben hohe Temperaturen, die sich in der Halle auf die Stimmung niederschlagen. Keiner von uns würde sich in einer solchen Unterbringungssituation wohlfühlen.

Wie häufig kommen solche Auseinandersetzungen vor?

Hildebrandt: Bisher hatten wir diesen einen Konflikt dieser Art. Die große Mehrheit der Menschen ist diszipliniert und versucht, mit der Situation umzugehen. Sie wissen, dass das eine Übergangssituation ist, mit der sie sich arrangieren müssen. Für viele ist ja erstmal die Frage entscheidend, wie es mit ihrem Asylantrag weitergeht. Leider gibt es unter 200 Geflüchteten, wie überall in der Gesellschaft, auch Personen, die sich nicht an Regeln halten. Wenn das in einer angespannten Szenerie passiert, ist es nicht ausgeschlossen, dass es zu einer solchen Situation kommen kann. Wir haben die, die am Konflikt beteiligt waren, voneinander separiert. Wichtig war, dass wir auch an die herangetreten sind, die daran nicht beteiligt waren. Das sind teilweise Mütter mit Kindern, denen wir eine Perspektive geben müssen. Die schwierigen Fluchterfahrungen prägen Menschen. Wir reden aber über wenige; die große Mehrheit ist froh, erst einmal eine Aufnahme gefunden zu haben.

Wenn Sie die Lilli-Gräber-Halle abmieten - das ist, so haben Sie mir das mal erklärt, der Fachbegriff dafür - wie gehen Sie dann vor?

Hildebrandt: Um Konfliktsituationen möglichst zu vermeiden, werden die, die am längsten in der Halle sind, als erstes in andere Unterkünfte kommen.

Ab wann beginnen die Abmietungen und wann rechnen Sie damit, dass die Gräber-Halle frei ist?

Hildebrandt: Sobald wir alternative Unterbringungskapazitäten anmieten können.

Wird die Lilli-Gräber-Halle dann auch wieder für Vereine nutzbar sein?

Hildebrandt: Ja.

Ein Hauptproblem an Hallen ist, dass man kaum Rückzugsräume hat. Die hätte man ja in Boarding-Houses oder in GBG-Wohnungen, die man ja auch für ukrainische Geflüchtete verwendet hat …

Hildebrandt: Wieder ein netter Versuch, Herr Koch (lacht). Ich kann nur so viel sagen: Jede Unterbringung, in der man Wohneinheiten oder Zimmer hat, in die man sich zurückziehen kann, ist eine viel bessere Situation als eine Halle.

Ich merke, das wird heute nichts mehr (lacht). Der CDU-Bundesvorsitzende Friedrich Merz hat im Wahlkampf Christian Specht besucht. In seiner Rede hat er auch gesagt: „Wenn die Bundesregierung nicht dazu bereit ist, klar und deutlich zu sagen, dass die Zahl nach Deutschland kommender Flüchtlinge begrenzt werden muss, sie schon an der Grenze ist und in vielen Städten und Gemeinden schon jetzt zu viele sind, ist das Wasser auf die Mühlen der politischen Extreme.“ Was denken Sie über die Aussage?

Hildebrandt: Ich denke, dass die im Bundestag zu diskutieren ist.

Gehört Mannheim denn zu den Kommunen, die bei der Aufnahme laut Merz an ihre Grenzen stoßen - oder sind wir sogar schon über diese Grenzen hinaus?

Hildebrandt: Wir haben eine angespannte Situation, die sich in den letzten Jahren auch nicht geändert hat. Wenn wir Kapazitäten für Geflüchtete suchen, ist die Bereitschaft geringer, Unterbringungsmöglichkeiten anzubieten. Wir erleben keine Solidaritätswelle wie die von 2015 oder die nach dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Die Unterbringung ist eine gewaltige Herausforderung für die Verwaltung, vor allem auch für die Mitarbeitenden, die sich überbordend engagieren. Da Mannheim aufgrund des teilweisen Wegfalls des LEA-Privilegs seiner Aufnahmeverpflichtung nachkommen muss, sind wir angehalten, Lösungen zu finden, die den Nutzungskonflikt durch eine Unterbringung in Turnhallen nachhaltig ausschließen.

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Um nochmal deutlich zu fragen: Wenn die Gräber-Halle abgemietet ist - bedeutet das, dass danach erstmal keine Hallen mehr angemietet werden oder werden dann andere Hallen belegt?

Hildebrandt: Ich habe schon gesagt, dass das Land in den Begriff der „Kapazität“ die Hallenbelegung einschließt. Das müssen wir in den Planungen berücksichtigen. In dem Moment, wenn sich die Frage nach der Anschlussbelegung an die Lilli-Gräber-Halle konkretisieren wird, werden wir gegenüber dem Gemeinderat auch zum Ausdruck bringen, wie die derzeitigen Anforderungen sind und wie wir auf die Vorgaben des Landes genauso wie auf unsere eigenen eingehen können. Erst wenn diese internen Planungen abgeschlossen sind, können wir Konkreteres sagen.

Sie können eine erneute Hallenbelegung nicht ausschließen, versuchen das aber zu vermeiden.

Hildebrandt: Ja. Neben den Hallen haben wir auch viele Menschen aus der Ukraine auf Columbus untergebracht. Auch das ist keine Dauerlösung, weil es für Columbus andere Pläne gibt, für die es schon gültige Verträge gibt. Das heißt, wir werden auch hier anderweitige Lösungen finden müssen. Auch hier gibt es Gespräche mit dem Bund. Unsere Aufgabe ist es, für die angespannte Situation, die wir in der Tat haben, Lösungen zu finden.

Apropos Lösungen finden: Die sucht man auch auf EU-Ebene. Es gibt den Vorschlag, den Asylprozess zu reformieren, und dass Asylsuchende so lange in - ich tue mich mit dem Begriff schwer - lagerähnlichen Einrichtungen untergebracht werden, bis über ihren Asylantrag entschieden ist. Was halten Sie als Vertreter der Stadt Mannheim davon?

Hildebrandt: Da schneiden Sie zwei Fragen an. Die erste ist, wie wir über Asylanträge schneller entscheiden können. Wenn die Regelung das schafft, wäre sie gut. Wir haben Personen, die das zweite, dritte oder vierte Mal Asyl beantragen und sicherlich keine Aussicht auf Erfolg haben. Das müssen wir schneller klären, und wir sind da gut beraten, wenn wir die Regulierung besser vollziehen. Die zweite Frage ist die nach der Organisation von Flüchtlingen an den Außengrenzregionen der Europäischen Union. Das ist eine Frage, zu der ich mich nicht äußern kann. Sie haben zurecht gesagt, dass Sie sich mit dem Begriff ,Lager’ oder ,lagerähnlich’ schwertun, weil der Begriff in vielerlei Hinsicht extrem negativ konnotiert ist. Das tue ich auch. Wie das Asylverfahren an den Grenzen ablaufen soll, ist mir noch vollkommen unklar.

Die Details sind tatsächlich noch recht diffus, und der politische Streit ist auch entsprechend groß.

Hildebrandt: Ich habe bislang noch nicht gehört, wie die Regelungen wirklich aussehen. Sind es tatsächlich Lager? Oder gibt es angemessene Unterbringungen, beispielsweise durch den Aufbau einer sozialen Infrastruktur? Es stellt sich generell die Frage, wie mit Frauen, Kindern und anderen vulnerablen Gruppen umgegangen wird. So lange diese Konkretisierungen nicht erfolgt sind, kann ich mir keine Meinung bilden. Sicher ist: Man kann noch so negative Unterbringungsszenarien aufbauen - das wird Menschen nicht daran hindern, zu uns zu kommen. Wir müssen vor Ort, in den Ländern selbst, besser darüber informieren, wie ein Asylverfahren abläuft.

Wie meinen Sie das?

Hildebrandt: Vielen ist nicht klar, dass sie nach Monaten auf der Flucht in Europa ankommen und sich für sie immer noch keine Chance auftut. Vielleicht hätten manche anders entschieden, wenn sie schon in ihren Herkunftsländern bessere Informationen gehabt hätten. Das gilt aber nicht nur für Asylsuchende, sondern auch für Menschen, die im Rahmen der Armutszuwanderung aus Europa kommen. Ich glaube, da sind wir noch nicht am Ende der Diskussion angelangt. Man darf aber nicht aus dem Blick verlieren, dass sich Menschen erst dann auf den gefährlichen Fluchtweg begeben, wenn sich Existenznöte auftun. In der Regel haben diese Menschen sehr schwierige Erfahrungen gemacht. Die Bevölkerung von Mannheim hat bislang über Parteigrenzen hinweg immer einen humanitären Grundton in der Debatte gehabt. Ich würde mich freuen, wenn das so bleibt.

Redaktion Reporter in der Lokalredaktion Mannheim & Moderator des Stotterer-Ppppodcasts

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