Mannheim. Diese Entscheidung, dieser Abschied ist ihnen nicht leicht gefallen, „er ist schon bitter“, sagt Hubert Syrzisko, seit 2019 Vorsitzender des Gesangvereins 1872 „Flora“. Er und sein Stellvertreter Siegbert Holch sind nur noch Liquidatoren, denn sie haben ihn auflösen müssen. Aber sie „fühlen sich nicht als Bestatter des Vereins, eher als Geburtshelfer“, denn der Verein blüht in neuer Form auf, als Stiftung. Sie erhält das Barvermögen von 200 000 Euro und das auf 1,5 Millionen Euro taxierte Vereinshaus.
Die Förderung von Kinder- und Jugendmusik – das ist der Zweck der neuen Stiftung. „Mit der Mieteinnahme kann die Stiftung noch lange aktiv bleiben“, ist Syrzisko überzeugt. Das passe zu Mannheim als Musikstadt, und es geschehe „aus Ehrfurcht und mit Rücksicht auf die vielen musikbegeisterten und ehrenamtlich arbeitenden „Flora“-Mitglieder“.
Das unter Denkmalschutz stehende Haus in Mannheim hat neun Wohnungen, Saal und Gaststätte
Das – unter Denkmalschutz stehende – Haus in der Lortzingstraße 17-19, in der Neckarstadt als „Floraheim“ bekannt, umfasst neun Wohnungen, eine – derzeit thailändische – Gaststätte sowie den früheren Saal des Vereins, der momentan der Moschee vom Islamischen Arbeiterverein dient. Die Satzung des Vereins sah für den Fall der Auflösung vor, dass das Vermögen einfach an die Stadt fällt. Doch das wollten die letzten „Flora“-Aktiven nicht. Dann wäre die Immobilie an den meistbietenden Käufer gegangen, so der Vorstand, „und wir hätten kein Recht darauf gehabt, zu erfahren, in welche Kanäle das Geld geflossen wäre“. Neue Eigentümer hätten auch „mit leichter Hand den Mieterschutz aushebeln können“. Doch da man sich für das „Schicksal der Mieter verantwortlich fühle“ und ebenso für die Zukunft des Restaurants, habe man eine andere Lösung gesucht.
Nach Gesprächen mit zwei Anwaltskanzleien sowie Oberbürgermeister Christian Specht, zum Zeitpunkt des ersten Kontakts noch Kämmerer, stand für die Sänger fest: Sie wollen eine Stiftung gründen, aus deren Erträgen die Musikförderung von Kindern und Jugendlichen finanziert wird. Dies sei die „gerechte und nachhaltige Lösung“, so Syrzisko, statt das Haus „einfach so dem Ungewissen zu hinterlassen“, so der Vorsitzende: „In dem Haus steckt viel Mühe und Arbeit mehrerer Sängergenerationen, es war lange unsere kulturelle Heimat“. Und daran erinnert nun an der Fassade eine ausführliche Gedenktafel, welche die Geschichte des Vereins und seines Hauses sowie die Motive der Mitglieder zur Stiftungsgründung darstellt.
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Die „Flora“ zählt zu den ältesten, bislang noch bestehenden Mannheimer Gesangvereinen – von denen sich sehr viele ja schon in den vergangenen Jahren aufgelöst haben. Die Gründung erfolgt im August 1872, also kurz nach der Gründung des Kaiserreichs und zu einer Zeit, als man mit Gulden und Kreuzer bezahlt. 35 junge Männer versammeln sich da in der Gaststätte „Pflügersgrund“ in der Neckarstadt und beschließen die Vereinsgründung. Er erhält den Namen „Flora“ – wegen des gärtnerischen Charakters der Neckarstadt. Erst wenige Monate zuvor ist die Entscheidung gefallen, den Bereich der „Neckargärten“ zu bebauen und Mannheim damit nördlich des Neckars zu erweitern.
Zur Grundsteinlegung 1912 führt ein Festzug der über 1500 Mitglieder
Erster Vorsitzender wird Johan Jakob Thoma, musikalischer Leiter Hofmusiker Gaule. Schon nach zwei Jahren schafft der Verein mit Spenden aus der Bevölkerung eine handgestickte Fahne an. Die Mitgliederzahl geht nach oben. Die „Flora“ singt bei Festen im Stadtteil und bei Sängerwettstreiten im ganzen badischen Raum. Und das 25-jährige Bestehen des Vereins wird mit einem Konzert im Nationaltheater, begleitet von der Kapelle des Badischen Grenadierregiments 110, und einem Bankett im „Kaisergarten“ in der Neckarstadt gefeiert.
Beim großen Sängerfest im neu erbauten Rosengarten 1903 ist die „Flora“ ebenso dabei wie beim Stadtjubiläum 1907. Ab diesem Jahr finden die Vereinskonzerte regelmäßig im Rosengarten statt. Nach einem dieser Auftritte lobt Oberbürgermeister Otto Beck: „Jetzt habe ich mich selbst überzeugt, dass man Ihren Verein erstklassig nennen muss“.
1911 muss der Chor aber das Wirtshaus „Pflügersgrund“ räumen, weil es in ein Kino umgewandelt wird. So entsteht der Wunsch nach einem eigenen Vereinshaus. Dafür erwerben die Sänger ein Grundstück in der Lortzingstraße und legen dort am 28. April 1912 den Grundstein auf dem mit Girlanden geschmückten Festplatz. Dorthin führt ein Festzug der zu jener Zeit über 1500 Mitglieder. Schon Ende 1912 ist der Bau fertig, und zusammen mit der Feier zum 40-jährigen Bestehen wird er am 7. und 8. Dezember eingeweiht. 200 Sänger – plus passive Mitglieder – zählt der Verein da.
Mehr als 100 davon werden aber zum Ersten Weltkrieg einberufen, viele geraten in Gefangenschaft und 17 kommen nicht mehr zurück – der erste Einschnitt für den Verein. Aber er erholt sich wieder, gibt bereits 1920 ein Konzert mit 220 Sängern und im Jahr darauf, nach dem schrecklichen Explosionsunglück bei der BASF in Oppau, ein Benefizkonzert für die Opfer. Der Erlös sind immerhin 2500 Reichsmark.
Im Zweiten Weltkrieg wird das „Flora“-Haus von Brandbomben getroffen. Es brennt aus, bei Gesangswettbewerben errungene Pokale und der Notenbestand werden ein Raub der Flammen. Weil in einem sicheren Versteck verborgen, überlebt die wertvolle goldene Ehrenkette, die 1925 bei einem Preissingen in Pforzheim überreicht wird.
Nach dem Zweiten Weltkrieg bauen die Sänger ihr Haus wieder auf. 1952 absolvieren sie ihren ersten öffentlichen Auftritt und feiern zugleich, dass Friedrich Gellert nun 50 Jahre ihr Dirigent ist. 1957 wird die im Krieg zerstörte Fahne neu geweiht. Zudem gestaltet der Chor das 350-jährige Bestehen der Stadt Mannheim mit. 1972 erhält er Schiller-Plakette der Stadt und die Zelter-Plakette des Bundespräsidenten in Anerkennung seiner Verdiente um die Pflege der Chormusik verliehen. Es folgen viele erfolgreiche Konzerte und große Konzertreisen.
Gesangsverein "Flora": Am Ende sind es nur noch sieben Sänger und die Chorgemeinschaft endet
In den 1990er Jahren schrumpft der Chor aber dramatisch. 1996 sind es noch knapp 20 aktive Sänger. 1997 wird daraufhin ein Kinderchor gegründet, aber der besteht nur bis 2010 – es gelingt nicht, die Jugendlichen zu halten. Ohne Vertrag, einfach per Handschlag der beiden Vorsitzenden Kurt Gräf – 70 Jahre Mitglied und seit 1972 Vorsitzender – und Horst Dollinger, entsteht 1997 die Chorgemeinschaft mit dem Männergesangverein „Lyra“. Das beschert beiden Vereinen noch „25 erfolgreiche und schöne Jahre“, wie der scheidende Vorstand aus Hubert Syrzisko, Siegbert Holch, Kassier Jürgen Gohrock und Schriftführerin Malu Wünnenberg bilanziert.
Als die „Lyra“ 2020 die Auflösung beschließt, bedeutet das auch für die „Flora“ das Ende. „Wir haben nur noch sieben Sänger und keine Chance mehr gesehen, junge Männer zu gewinnen“, so Syrzisko, zumal nach der Corona-Zwangspause. Es sei traurig, einen so erfolgreichen Verein auflösen zu müssen, der lange vielen Menschen das Gefühl der Zusammengehörigkeit gegeben habe. Aber mit der Stiftung erhalte man wenigstens den Namen „Flora“. Fahne, Kette und Trophäen hat das Marchivum erhalten.
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