Historische Zeitungsseiten

Angst, die im Freudentaumel endet: "MM-Epoche" über die 1980er

AIDS, Tschernobyl, Waldsterben, Nachrüstung - und am Ende der Mauerfall: Die aktuelle Ausgabe der Edition "Epoche" des "Mannheimer Morgen" lässt auf historischen Zeitungsseiten die 1980er wieder aufleben

Von 
Konstantin Groß
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Berlin in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989: Mit dem Fall der Mauer enden die 80er, die von so vielen Ängsten begleitet sind, doch noch glücklich. © dpa

Mannheim. Die 80er - laut Umfragen sind sie das beliebteste Jahrzehnt der Deutschen. Kein Wunder, denn es ist das Jahrzehnt, in dem die Baby-Boomer erwachsen werden. Wer etwa 1964 geboren wird, ist zu ihrem Beginn 16 und bei ihrem Ende 26 - wichtige Jahre also. An sie erinnert jetzt die jüngste, die fünfte Ausgabe der „MM“-Edition „Epoche“.

Beim Blick in die von „MM“-Archivar Reimund Dunschen ausgewählten Zeitungsseiten der 80er Jahre erscheinen diese bedrückend aktuell. Denn auch sie sind geprägt von Ängsten: Angst vor einer Pandemie (AIDS), Angst vor Umweltkatastrophen (Waldsterben, Atomkraft) und Angst vor Krieg (Nato-Nachrüstung). Doch gleichzeitig sind auch sie ein Jahrzehnt der Ausgelassenheit und an ihrem Ende sogar des Aufbruchs in eine neue, bessere Zeit.

Videofilme erobern die Wohnzimmer

Der Blick zurück beginnt mit Äußerlichkeiten: den auftoupierten Frisuren, aus heutiger Sicht eher an einen Wischmopp erinnernd, den Fönwellen der Jungs bis tief ins Gesicht - Popper nennt sich diese Jugendkultur. In der Mode prägend sind Schulterpolster in den Sakkos, die Ärmel unten umgeschlagen.

Mehr als je zuvor widmet man sich dem Körper. Die Mucki-Bude wird endgültig zum Fitnessstudio, in dem ab 1983 Aerobic à la Sydne Rome und Jane Fonda Einzug hält. Hautenge, pinkfarbene Leggings sind dazu ebenso lebensnotwendig wie das Stirnband und der Walkman, der für den Rhythmus sorgt.

Überhaupt ändert sich der Medienkonsum. Ab 1980 erobern Videofilme die Wohnzimmer. Die werden selten gekauft, man leiht sie aus, in einer neuen Art von Laden, der Videothek. Für Jugendliche bleibt nur ein schüchterner Blick in den abgetrennten Trakt der Erotikfilme.

„Epoche – die 1980er“

  • Inhalt: 28 Seiten mit Nachdrucken aus „MM“-Seiten der 1980er Jahre sowie zwei Seiten historische Einordnung.
  • Idee und Auswahl: Reimund Dunschen, „MM“-Archiv.
  • Historische Einordnung: „MM“-Redakteure Konstantin Groß (International/Deutschland) und Peter W. Ragge (Mannheim).
  • Projektleitung: „Redakteur Stephan Eisner.
  • Preis Einzelausgabe: 11,90 Euro (10,50 Euro bei Premium-Karte).
  • Bisher erschienen: 1940er, 1950er, 1960er und 1970er Jahre (ebenfalls noch lieferbar).
  • Weitere Infos: meinmorgen.app/epoche oder Telefon 0621/392-2097

Das Fernsehprogramm erweitert sich. Bisher gibt es nur drei Programme: ARD, ZDF und eben die Dritten. Ab 1984 kommen neue hinzu, und an ihnen ist alles neu: Sie senden rund um die Uhr und immer mit Werbung. RTL, Sat.1 & Co. erobern sich Marktanteile mit Krawallshows und seichter Erotik („Tutti Frutti“).

1987 revolutioniert MTV den Musikkonsum der Jugend. Die Moderatoren Kristiane Backer und Ray Cokes sind bald genauso bekannt wie die Stars Michael Jackson und Madonna. Die Neue Deutsche Welle versucht mit deutschsprachigen Titeln gegenzusteuern, ihr Stichwortgeber heißt Markus: „Ich will Spaß“.

1986: radioaktive Wolke breitet sich aus

Technisch setzt eine Revolution ein: Computer, bislang schrankhoch in Behörden und Großbetrieben, halten Einzug in die Büros, ab 1981 mit dem IBM PC, daheim mit dem Commodore 64 - mit grünen Buchstaben auf schwarzem Hintergrund. Zugleich zeigt der Fortschritt seine negative Seite: 1986 explodiert in der sowjetischen Stadt Tschernobyl ein Kernkraftwerk. Die radioaktive Wolke breitet sich bis nach Westeuropa aus, in jenem Sommer dürfen kein Freiluft-Gemüse, kein Wild, keine Milchprodukte verzehrt werden, Kinder nicht auf Spielplätze.

© Grafik MM

Eher schleichende Naturzerstörung stellt das Waldsterben dar. 1984 sind die Hälfte aller Bäume in Deutschland krank - Folge des „Sauren Regens“ aus Emissionen von Schornsteinen und Autos. Doch die Politik reagiert: Ab 1983 kommen bleifreies Benzin an die Tankstellen und Katalysatoren in die Autos.

Auch eine neue Krankheit tritt auf: die erworbene Immunschwäche, deren englische Abkürzung AIDS Angst auslöst, geschürt vor allem vom „Spiegel“, der sie als „Lust-Seuche“ darstellt. Das trifft dankbar auf jene, die ohnehin schon homophob denken; der Bakteriologe Fehrenbach versteigt sich zu der These, dass „der Herr für die Homosexuellen immer eine Peitsche parat hat“.

In Bayern will Innenstaatssekretär Gauweiler (CSU) für „Risikogruppen“ Zwangstest, für Infizierte gar Meldepflicht und separierte Unterbringungen - manche nenen sie Lager. In Bundesgesundheitsministerin Rita Süßmuth (CDU) findet er seinen Konterpart: Sie setzt auf Prävention. Legendär der Werbespot mit Ingolf Lück und Hella von Sinnen vor imaginärer Supermarktkasse: „Tina, was kosten die Kondome?“ Nach dem Höhepunkt 1986 sinkt die Zahl der Infektionen wieder.

Machtwechsel in Bonn: Kohl für Schmidt

1982 wechselt die FDP in Bonn die Seiten, mit ihren Stimmen wird SPD-Kanzler Helmut Schmidt gestürzt und CDU-Chef Helmut Kohl zu seinem Nachfolger gewählt. Fortan arbeiten sich Kabarettisten und politische Gegner an ihm ab - wie gründlich täuschen sie sich: Der angeblich tumbe Tor aus der Pfalz wird ausgerechnet auf internationalem Parkett zur historischen Gestalt.

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Die Weltlage ist hochexplosiv. Die Nato beschließt, eigene Mittelstreckenraketen zu stationieren, sollte in Verhandlungen mit Moskau keine Abrüstung der sowjetischen SS-20 erreicht werden - der legendäre „Doppelbeschluss“. In Deutschland grassiert Kriegsangst. Die Friedensbewegung läuft Sturm, organisiert Demos, die das Land noch nicht gesehen hat: 250 000 Teilnehmer in Bonn 1981, 400 000 bei einer Menschenkette bei Stuttgart 1983.

Kanzler Kohl lässt sich nicht beeindrucken. Als die Verhandlungen scheitern, setzt er den zweiten Teil des Doppelbeschlusses um: Am 25. November 1983 kommen die ersten Pershing II in Deutschland an - eine richtige Entscheidung, wie heute unstrittig ist, denn in Moskau führt dies zu Veränderungen. Das regierende Altersheim im Kreml wird 1985 durch einen erst 54-Jährigen ersetzt: Michail Gorbatschow. Die Welt lernt nicht nur sein Muttermal auf der Stirn, sondern auch zwei russische Worte lieben: Glasnost (Offenheit) und Perestrojka (Umgestaltung). Die wecken Hoffnung, machen Mut zu Veränderung: zuerst in Polen, am Ende sogar in der DDR.

Dort kommt es zu Protesten, immer mehr Ostdeutsche fliehen in den Westen. Zeichen der Nervosität der SED ist der historische Patzer ihres Sprechers Günter Schabowski: Auf einer Pressekonferenz antwortet der auf die Frage, ab wann die gerade beschlossene Reisefreiheit gilt: „Das tritt nach meiner Kenntnis . . . ist das sofort, unverzüglich.“ Umgehend strömen die Menschen zur Grenze, die Berliner Mauer wird Makulatur. Es ist der 9. November 1989.

Glücklich endet damit ein Jahrzehnt, das geprägt ist von Worst Case Szenarien, von denen aber keines eintritt - eine Erkenntnis, die etwas Hoffnung gibt, auch für uns heute.

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