Brandt und Travolta – Jahre großer Emotionen

Die 70er sind zunächst geprägt von mehr gesellschaftlicher Freiheit im Inneren und erfolgreichen Friedensbemühungen weltweit – bis Terrorismus und Kriegsangst das Land heimsuchen

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Dies ist die vierte Folge unserer „Epoche“-Edition – nach den 1940er, 50er und 60er Jahren. Und wie bisher, so übernehme ich wieder die allgemeine historische Einführung in diese Zeit. Doch diesmal ist es für mich etwas Besonderes: Als 1964 Geborener sind die 70er das erste Jahrzehnt, das ich bewusst erlebe. Als es startet, bin ich sechs, als es endet 16 – prägende Jahre eines menschlichen Lebens. Doch auch wichtige Jahre für Deutschland und für die Welt.

Die Jugend unserer Generation ist noch eine ohne Internet und Handy. Ja, sogar das Festnetz ist nicht flächendeckend verbreitet. Viele müssen die Telefonnummer der Nachbarn angeben, um erreichbar zu sein. Für eigene Anrufe geht man in die gelben Telefonzellen, die es noch an fast jeder Ecke gibt.

Die Erwachsenen sehen komisch aus: Die Männer tragen lange Haare, die bis in die Wangen reichen; Koteletten nennt man das. Hüte dagegen sind out, damit auch das so peinliche Hut-Lüpfen zum Gruße beim Sonntagsspaziergang. Die Hemden sind grell bunt, mit breiten Kragen, aus Kunststoff, damit schweißlastig (dunkle Flecken unter den Achseln damals üblich, sogar bei Auftritten von TV-Stars im Fernsehen). Dazu trägt man breite Krawatten und Schlaghosen.

Eine neue Jugendkultur formiert sich. Den Mainstream bildet die Disco-Szene. Die Beat-Schuppen der 60er Jahre mit Live-Bands werden zu Discotheken mit Lichtorgel und Discofox im Vierviertel-Takt. Den Durchbruch bringt 1978 der Film „Saturday Night Fever“ mit John Travolta. Tanzschulen müssen den Jugendlichen seine Schritte beibringen, Friseure seine Tolle kreieren.

Unter den Drahteseln ist das Bonanza-Rad mit Bananen-Sattel der letzte Schrei. Das fährt man ohne Helm, Auto anfangs (bis 1976) noch ohne Gurtpflicht. In der Mobilität bleibt es Maß aller Dinge. Als Massen-Star wird der Käfer ab 1974 durch den Golf ersetzt.

Im Wohnzimmer wird die dunkelbraune Schrankwand durch orangefarbene Möbel samt „Lavalampe“ abgelöst. In der Küche kleben bunte Blumen von Pril an den Kacheln, wo sie auch nach Jahrzehnten nicht wegzukriegen sind.

Im Medienkonsum hat das Radio noch weit größere Bedeutung als heute – in unserer Region abends etwa „Vom Telefon zum Mikrofon“ mit Heinz Siebeneicher. Im Fernsehen gibt es nur drei Programme: ARD, ZDF und die Dritten, geprägt von „Telekolleg“-Sendungen, in denen skurrile Typen mit dicken Hornbrillen Mathe oder Latein erklären.

Blütezeit des Fernsehens

ARD und ZDF beginnen erst nach 16 Uhr mit Programm, davor ist nur das sogenannte Testbild zu sehen. Sendeschluss ist weit vor Mitternacht. Trotzdem werden die 1970er zur Blütezeit des Fernsehens und damit speziell der noch konkurrenzlosen Öffentlich-Rechtlichen.

Kinder erfreuen sich an „Wicki“, „Biene Maja“ oder „Catweazle“, Jugendliche an „Raumschiff Enterprise“ und dabei am Beamen, an dem Phaser von Captain Kirk und den Ohren von Mister Spock. Lange vor seinem Welterfolg in „Dallas“ schlägt sich Larry Hagman mit dem Flaschengeist „Jeannie“ herum. Und die Schlussszene der „Waltons“ wird Kult: „Gute Nacht, John Boy“.

Musikalisch prägend wird „Disco“ mit Ilja Richter („Licht aus! Spot an!“) – Ruhe muss herrschen, um mit dem Cassettenrecorder die Songs vom Fernsehen aufzunehmen. Die ZDF-Hitparade mit Schnellredner Dieter Thomas Heck versammelt die Familie am Samstagabend zum medialen Lagerfeuer. Man träumt von den vielen tollen Gewinnen auf Rudi Carrells „Laufendem Band“ und staunt, wie der „Seewolf“ Raimund Harmstorf in seiner Hand eine Kartoffel zerquetscht.

Der sonntagabendliche „Tatort“ will noch keine Gesellschaftskritik betreiben, widmet sich mit Kommissaren wie Haferkamp (Hansjörg Felmy) oder Finke (Klaus Schwarzkopf) Verbrechen aus Liebe und Leidenschaft; „Reifezeugnis“ (1977) mit Nastassja Kinski ist heute ein Klassiker. Ebenso wie der Spruch „Harry, hol’ den Wagen“ von „Derrick“ Horst Tappert, den er so aber nie sagt. Für Tiefgang sorgt der Neue Deutsche Film dank Rainer Werner Fassbinder („Berlin Alexanderplatz“) oder Volker Schlöndorff („Die Blechtrommel“).

Sexuelle Befreiung

In der Gesellschaft vollzieht sich eine Revolution. Auch eine sexuelle, musikalisch verewigt von Jane Birkin in ihrem lasziven Song „Je t’aime“. Die Antibabypille findet allgemeine Verbreitung. Auch die Gesetzeslage ändert sich: 1976 wird nach jahrelanger heftiger Diskussion über den Paragrafen 218 Abtreibung möglich, das Scheidungsrecht modernisiert: Fortan gilt nicht mehr das Schuld-, sondern das Zerrüttungsprinzip. 1977 wird die gesetzliche Pflicht der Frau zur Hausarbeit abgeschafft. Auch ihr Schutz vor häuslicher Gewalt wird Thema, 1976 in – wo sonst – West-Berlin das erste Frauenhaus eröffnet: Am Ende des Jahrzehnts gibt es schon 100.

Die Veränderungen in der Politik sind sowohl Ausdruck des gesellschaftlichen Wandels wie auch deren Motor. 1969 wird mit Willy Brandt erstmals seit 1949 ein Sozialdemokrat Kanzler; die 20-jährige Herrschaft der sich als geborene Staatspartei fühlenden CDU ist passé.

Die SPD/FDP-Koalition setzt ein überfälliges Reformprogramm um – im Inneren („Mehr Demokratie wagen“) wie auch in der Außenpolitik („Entspannung“). In Verhandlungen mit der DDR werden Erleichterungen für die Menschen erreicht, in den Verträgen von Moskau, Warschau und Prag die Grenz-Realitäten von 1945 anerkannt – gegen ätzende Kritik der Vertriebenenverbände und der Union. Legendär der Kniefall Willy Brandts am Mahnmal für die Opfer des Warschauer Ghettos. 1971 erhält er den Friedensnobelpreis, 1972 wird er („Willy wählen!“) mit fast 46 Prozent für die SPD eindrucksvoll bestätigt.

Doch schon 1974 endet seine Ära. Im Kanzlerbüro arbeitet ein DDR-Spion, Günter Guillaume. Nach dessen Enttarnung tritt Brandt zurück. Nachfolger wird Helmut Schmidt, ein schneidiger Hanseat. Unter seiner Ägide versandet die Reformlust, er konzentriert sich auf Wirtschaft. Denn sie wird zum Dauerproblem. Im Gegensatz zu den 1960ern sind die 70er das Jahrzehnt von Arbeitslosigkeit und Inflation. Trotzdem gewinnt Schmidt 1976 die Bundestagswahl gegen den rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Helmut Kohl – ganz knapp. Erst 1982 wird der CDU-Chef den „Weltkanzler“ stürzen können.

Hoch-Zeit des Terrorismus

Die Erscheinung, die Schmidts Amtszeit prägen wird, ist der Terrorismus. Er beginnt bereits 1972, mit dem Anschlag palästinensischer Terroristen bei den Olympischen Spielen in München; die israelischen Sportler werden als Geiseln genommen; sie sterben, als der dilettantische Befreiungsversuch scheitert. Die Spiele, im Gegensatz zu 1936 in Berlin als fröhliche konzipiert, werden zwar fortgesetzt, bleiben aber dennoch auf ewig mit dem Massaker verbunden.

Mitte der 70er nehmen die Anschläge zu. Die Entführung des Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz sowie die Ermordung des Berliner Kammergerichtspräsidenten Günter von Drenkmann, des Bankiers Jürgen Ponto und von Generalbundesanwalt Siegfried Buback erschüttern den Staat in den Grundfesten.

Im Herbst 1977 erreicht dieser Terror seinen Höhepunkt, geht daher auch als „Deutscher Herbst“ in die Geschichte ein: Die Terroristen entführen den Lufthansa-Urlaubsflieger „Landshut“ und den Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer, um ihre in Stuttgart-Stammheim einsitzenden Führungsfiguren, allen voran Andreas Baader, frei zu pressen. Doch Kanzler Schmidt lässt im afrikanischen Mogadischu das Flugzeug von der deutschen Polizeieinheit GSG 9 stürmen – und festigt seinen Ruf als Krisenmanager, die GSG 9 wird zur Legende, dem Terrorismus das Genick gebrochen; die Inhaftierten in Stammheim begehen kurz darauf Selbstmord. Doch für den entführten Schleyer bedeutet dies ebenfalls den Tod: Er wird ermordet.

In den 70er Jahren wird auch die Zeit reif, sich mit der deutschen Vergangenheit zu beschäftigen. Den Katalysator bildet 1979 die US-Fernsehserie „Holocaust“, die Meryl Streep zum Weltstar macht. Das Schicksal einer jüdischen Familie wird in den dritten Programmen der ARD gezeigt – mit Ausnahme des Bayerischen Rundfunks, der dies verweigert. Millionen Deutsche, vor allem junge, sind erstmals mit dieser Thematik in Berührung und erschüttert.

Nun sind Figuren nicht mehr tragbar wie der baden-württembergische CDU-Ministerpräsident Hans Filbinger, der noch bei Kriegsende persönlich Todesurteile fällt und vollstrecken lässt. Als dies bekannt wird, rechtfertigt er sich mit der haarsträubenden Aussage: „Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein“ – und muss gehen.

Doch auch die politischen Strukturen ändern sich. Auf der Bühne taucht eine völlig neue Erscheinung auf: die Bürgerinitiative. Menschen vor Ort organisieren sich für ein bestimmtes Anliegen oder korrekter gesagt: dagegen – sei es gegen eine neue Straße, sei es gegen ein Kernkraftwerk. Umweltpolitik im weitesten Sinne ist das Kernthema der BIs.

Am Ende reicht die örtliche Aktion nicht aus, wächst die Einsicht, dass eine politische Partei notwendig ist: Die Grünen entstehen. Mit Norwegerpullis als Outfit und strickenden Delegierten auf Parteitagen werden sie zunächst jedoch noch nicht recht ernstgenommen.

Obwohl bereits in den 1970ern die „Grenzen des Wachstums“ sichtbar werden. Schon 1972 veröffentlicht der Club of Rome ein Weißbuch unter diesem Titel. Die Ölkrisen 1973 und 1979 offenbaren die Fragilität der Energieversorgung, ja des Wirtschaftens generell. 1973 sorgt der Boykott der arabischen Öl-Staaten sogar für autofreie Sonntage, auf Autobahnen fahren Kutschen. Von der Mehrheit der Deutschen wird dies aber noch eher als Happening begriffen.

Neue Kriegsangst

Ohnehin tritt eine andere Gefahr in den Vordergrund: Krieg. Zu Beginn der 1970er Jahre erscheint er verbannt. 1972 unterzeichnen US-Präsident Richard Nixon und Sowjetchef Leonid Breschnew ein Abkommen zur Begrenzung von atomaren Interkontinentalraketen (SALT I), 1979 Jimmy Carter und Breschnew SALT II; der ewig grinsende Erdnuss-Farmer aus Georgia verpasst dem greisen Kreml-Chef sogar einen Wangenkuss. Auch der Vietnam-Krieg endet 1975, in Camp David (USA) schließen sogar Ägypten und Israel 1978 Frieden.

Zum Ende des Jahrzehnts jedoch verdüstert sich der weltpolitische Horizont. 1979 beschließt der Westen: Verschrotten die Sowjets auch nach Verhandlungen nicht ihre Mittelstreckenraketen, dann stationiert die Nato amerikanische in Europa, vor allem in Deutschland – der berühmte „Doppelbeschluss“. Und am 24. Dezember 1979 marschieren die Russen in Afghanistan ein, um das kommunistische Regime dort zu retten. Ein neues Jahrzehnt des Kalten Krieges beginnt – doch dies ist dann Thema in der „Epoche“ zu den 1980er Jahren.

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