Mannheim. Erste Erinnerungen ans Eisstadion? Bei mir sind es nicht die Gesänge „Wir woll‘n die Adler sehen“, nicht ein Konzert der Stones, ja noch nicht einmal das von Udo Lindenberg; das wird erst später kommen. Die erste Erinnerung: viel Blaulicht, viele - aus damaliger Sicht - alte Männer in dunklen Mänteln, viel Gerede. Im Alter von elf Jahren, an der Seite des Vaters, bei einer politischen Kundgebung 1975, einer der hochkarätigsten in der Stadtgeschichte. Doch Bedeutung und Hintergründe werden mir erst später klar werden, aus Zeitungsberichten und Büchern.
Was zuweilen zu kurz kommt, aber nicht vergessen werden darf: Das Eisstadion ist nicht nur Schauplatz von Sport und Musik, sondern auch von Politik. Eine der spektakulärsten Kundgebungen steigt am 13. November 1975, als Höhepunkt des Bundesparteitages der SPD, der vom 11. bis 15. November im Rosengarten zu Gast ist.
1975 - eine Ewigkeit her! 47 Jahre. Trotzdem erinnere ich mich gut: Der Sommer startet sehr kühl: Rudi Carrell bringt seinen Hit „Wann wird‘s mal wieder richtig Sommer?“ mit der Strophe: „Schuld daran ist nur die SPD“. Das liegt im Zeitgeist. Im Jahr zuvor tritt Willy Brandt nach der Enttarnung des DDR-Agenten Günter Guillaume als Bundeskanzler zurück, bleibt aber SPD-Vorsitzender. Nachfolger als Kanzler wird Helmut Schmidt. Mit ihm rappelt sich die SPD langsam wieder auf. 1976 wird Schmidt die Wahl knapp gewinnen - mit 43 Prozent, damals für die SPD enttäuschend, für die heutige 25-Prozent-Truppe nur ein Traum.
Zu Gast in der roten Hochburg
Dass es für Schmidt ganz knapp wird, das zeichnet sich bereits 1975 ab: In jenem Jahr wächst ihm ein gefährlicher Gegner heran - der junge Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Helmut Kohl. Der modernisiert die CDU. Im Sommer 1975 feiert sie ihren Parteitag bewusst im roten Mannheim, der Nachbarstadt von Kohls Heimat Ludwigshafen.
Und im Herbst dann also die SPD. Auch sie hat Mannheim bewusst gewählt. Ihre historische Hochburg soll Kulisse für den Wiederaufstieg der gebeutelten Partei bilden. Das gelingt. Der Parteitag wird ein politischer Erfolg. Doch man will auch ein starkes öffentliches Zeichen setzen. Die Parteitagsregie organisiert eine Großkundgebung im Eisstadion.
An jenem 13. November 1975, einem Donnerstag, ist es soweit. Um 17 Uhr wird das Eisstadion geöffnet. Da keine Platzkarten ausgegeben werden, rät der „Mannheimer Morgen“ im Vorfeld, früh zu kommen. So kommen wir alle früh. Am Ende sind es 3500 Menschen, ein brodelnder Kessel, allerdings in eisiger Kälte.
In ihr harren die Menschen anderthalb Stunden bis zum Beginn der Kundgebung aus. Eine örtliche Band, die Limelight-Combo, soll ihnen einheizen. Die Geschwister Angelika und Erich Buck, mehrfache Europa- und Vizeweltmeister im Eistanz, sowie ihre amerikanische Kollegin Mary Ann Helmers vertreiben den frierenden Zuschauern die Zeit.
Dann endlich, gegen 18.45 Uhr, ist es soweit. Über einen roten Läufer betreten die prominenten Gäste die Eisfläche. Helmut Schmidt, natürlich mit Prinz-Heinrich-Mütze, kommt wie so oft zu spät und genießt sichtlich den Sonderapplaus. Seine Frau Loki nimmt am Podium zur Linken des Landtagsabgeordneten Walter Spagerer Platz.
Österreichs Kanzler macht deutschen Genossen Mut
Herbert Lucy, der Chef der Mannheimer SPD, begrüßt. Mitglieder des Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW) versuchen mit Sprechchören zu stören, Bereitschaftspolizei führt sie ab, unter dem Beifall und deftigen Bemerkungen des Publikums („Naus mit‘ne!“).
Erster Redner ist Bruno Kreisky, der österreichische Bundeskanzler, der für die ausländischen Gäste spricht, weil er naturgemäß am besten Deutsch kann (wenn man Österreichisch als solches bezeichnen mag . . .) Die Internationalität ist ein Kennzeichen dieses SPD-Parteitags in Mannheim. Das weltweite Ansehen Brandts und Schmidts ist ein Pfund, mit dem die Partei wuchert.
38 Delegationen sind in Mannheim, auch Regierungschefs, allen voran der britische Premierminister Harold Wilson von der Labour-Party, mehrere Ministerpräsidenten aus Skandinavien, aus Spanien ein noch unbekannter Felipe Gonzales - incognito. Denn noch ist seine Sozialistische Partei in Spanien verboten, regiert dort General Franco; erst dessen Tod am 20. November, fünf Tage nach Ende des Mannheimer Parteitages, wird die faschistische Diktatur zum Einsturz bringen und Gonzales Jahre später an die Regierung.
Der Österreicher Kreisky macht den deutschen Genossen Mut für die anstehende Bundestagswahl. Hinter ihm liegt gerade der Sieg bei seinen eigenen Parlamentswahlen. Er fordert die SPD auf, sich auf Arbeiter und Angestellte zu konzentrieren, aber auch um bäuerliche Regionen zu werben. Ein klares Statement gegen Intellektuelle, die in der SPD damals gerade immer stärker werden.
Bei Helmut Schmidt rennt er damit offene Türen ein. Der Kanzler ist der Star des Abends, wird mit Ovationen überhäuft. 30 Minuten lang liefert er einen Beweis seiner glanzvollen Rhetorik, deklariert etwa Helmut Kohl als Marionette des „krachledernen“ CSU-Chefs Franz Josef Strauß: „Wir haben nichts gegen Leder, auch nichts gegen Bayern, aber wir haben was gegen Strauß“, ruft er mit der ihm eigenen, für ein Kind unangenehm schneidenden Stimme unter dem Jubel des Publikums aus.
Willys Dank an Mannheim
Als letzter spricht Willy Brandt, schon beim Gang zum Rednerpult von „Willy! Willy“-Rufen begleitet. Ein politisches Ausrufezeichen, aber auch Labsal für seine Seele. Denn im Nachgang zur Guillaume-Affäre wird der Friedensnobelpreisträger von der Union immer noch als „Sicherheitsrisiko für Deutschland“ diffamiert; ein Großteil seiner sehr kurzen Rede muss er darauf verwenden, sich dagegen zu rechtfertigen.
Am Ende dankt der SPD-Chef für die Gastfreundschaft der Stadt Mannheim, die sich bei der Bewirtung der Gäste allerdings wieder einmal nicht mit Ruhm bekleckert. Die Delegierten erhalten drei Jahre alte Stadtpläne, auf denen die Neubauten im Zuge der Bundesgartenschau von 1975 nicht verzeichnet sind, dafür anderes, das gar nicht mehr existiert. Doch das merken nur die Einheimischen. Brandt zeigt sich überzeugt, dass der Parteitag von 1975 die gleiche Bedeutung haben werde wie jener von 1906. Damals grenzen SPD und Gewerkschaften ihre Aufgaben ab: die einen für die Politik, die anderen in den Betrieben.
Gegen 20 Uhr ist alles vorbei: Vom Friedrichspark ergießt sich eine von viel Polizei begleitete, ewig lang erscheinende Wagenkolonne schwarzer Limousinen mit dem Stern über die Rheinbrücke nach Ludwigshafen. In der Eberthalle findet für die Delegierten und ihre Gäste ein großer „Pfälzer Abend“ statt. Ganz will man die Pfalz dem Pfälzer Helmut Kohl nicht überlassen. Ich selbst mache mich mit meinem Vater auf den Heimweg. Völlig durchgefroren.
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