Mannheim. Es ist die Lust auf Wissen, statt auf Heirat und Kinder, die Ursula Bohrer vor rund 60 Jahren als junge Abiturientin zum Studium nach Mannheim bringt. „In meiner Abschlussklasse waren schon ein paar verheiratet. Ich war aber gierig aufs Lernen, wollte mich weiterbilden“, erinnert sich die mittlerweile 85-Jährige bei einer Tasse Tee im heimischen Wohnzimmer in der Gartenstadt. Was die 19-Jährige aus Neustadt damals noch nicht wissen kann: Diese Entscheidung wird ihr Leben und die Studienzeit von unzähligen Auslandsstudierenden nachhaltig beeinflussen.
Denn wie so manche Biografie ist auch Bohrers Lebensweg untrennbar mit der Universität Mannheim verbunden, die heute auf den Tag genau ihr 75-jähriges Bestehen feiert. Wie sehr diese Wissensschmiede Studierende, Lehrende und die Stadt Mannheim selbst über Generationen geprägt hat, soll eine Zeitreise ins Studium von zwei ehemaligen Absolventen aufdecken: Da ist zum einen die damals 22-jährige Bohrer, die in der Nachkriegszeit als eine von 90 Frauen von insgesamt 1000 Eingeschriebenen ihre Ausbildung zur Diplomhandelslehrerin beginnt. Zum anderen der damals 21-jährige Axel Weber, der schon als Kind in den zerbombten Ruinen des Barockschlosses spielt und sich später als junger Mann in den 1960er in der renovierten Schlossuni zum Betriebswirt ausbilden lässt – und dabei die Umbenennung zur Universität miterlebt.
Was die beiden miteinander verbindet: Ohne die Neubegründung der früheren städtischen Handelshochschule samt Umbenennung zur staatlichen Wirtschaftshochschule am 12. Oktober 1946 wären ihre Lebenswege wohl völlig anders verlaufen.
Kein Studentenzimmer für Frauen
Was für die junge Bohrer als Studentin in den 1950ern die größte Herausforderung war? „Wir wurden alle gleich behandelt, alle haben sich gesiezt. Das Problem war eher: Ich habe als Frau kein Zimmer in Mannheim bekommen. Es gab nämlich nur Wohnheime für Männer“, erklärt sie achselzuckend. Sechs Wochen lang klopft die 22-Jährige an jede Tür. In der Neckarstadt weist sie eine Vermieterin ab mit den Worten: „Ich nehme keine Studentinnen, die sollen lieber waschen und kochen“, erinnert sich Bohrer. Am Ende kommt sie in einem Dachzimmer bei ihrem Onkel in Ludwigshafen unter, darf aber weder Heizung noch Küche benutzen.
Ganz anders ergeht es Axel Weber, der sich sechs Jahre später für das Wintersemester 1965/66 an der staatlichen Wirtschaftshochschule einschreibt, Hauptfach Betriebswirtschaftslehre (BWL) mit Schwerpunkt Marketing: Er bleibt einfach zuhause in Ludwigshafen wohnen, denn „es war praktisch und preiswerter, vor der Haustür zu studieren“, verrät er beim Hausbesuch in der Oststadt. Während sich die Hochschule zu Webers und Bohrers Zeit bereits in der Stadt und der Region als badisch-pfälzische Wirtschaftshochschule einen Namen gemacht hat, ist ihre Neubegründung, die mitten in den Wiederaufbau der Quadratestadt fällt, für viele ein Hoffnungsschimmer. Und ganz im Sinne der Aufbruchsstimmung, die sich breitmacht.
Statt in Straßen in Hochschule investiert
„Die Neubegründung war damals äußerst schwierig und eine sehr große Sache, auch für die Stadt. Denn Mannheim hatte vor dem Krieg seine Hochschule verloren“, erklärt Historiker Philipp Gassert, Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Uni Mannheim. Sein Lehrstuhl hat die umfassende Geschichte der Bildungseinrichtung im Jubiläumsband „75 Jahre Neubegründung Wirtschaftshochschule und Universität Mannheim“ wissenschaftlich aufgearbeitet. Darin sprechen die Historiker und Historikerinnen von einem harten Ringen um die Neubegründung, die zudem von der amerikanischen Besatzungsmacht genehmigt werden muss. Das Beachtliche an der Neubegründung: Obwohl die Stadt noch in Trümmern liegt, sagt der damalige Oberbürgermeister Josef Braun laut „MM“-Bericht bei der Wiedereröffnungsfeier der neuen alten Hochschule seine Unterstützung zu. „Statt in Straßen investierte man in die Hochschule“, analysiert Gassert.
Ob der Andrang von Bewerbern groß war? Tatsächlich fühlt sich die Jugend, so Gassert, durch das Kämpfen an der Front und den Krieg um ihre besten Jahre betrogen, der Hunger nach Bildung ist enorm. Bei der Immatrikulationsfeier warnt Rektor Walter Georg Waffenschmidt „die heißen Herzen der Jugend vor Übermut“, berichtet der „Mannheimer Morgen“ damals. Das Ziel der neuen Hochschule: als Bildungsanstalt der Allgemeinheit zu dienen, „ohne nationale, rassische oder standesmäßige Unterschiede zu machen“, so Waffenschmidt.
Bevor Ursula Bohrer sich aber mehr als zehn Jahre nach der Neubegründung gegen eine Ausbildung zu Schneiderin und für ein Studium an der staatlichen Wirtschaftshochschule in Mannheim entscheidet, entwickelte sich die Hochschule rasant: Denn auch die regionale Wirtschaft hat großes Interesse daran, dass die ehemalige Handelshochschule, die vor dem Zweiten Weltkrieg nach Heidelberg verlegt wurde, wieder zurück nach Mannheim kommt – und zwar dauerhaft. Schließlich werden dort nicht mehr nur die Kaufleute und Handelslehrkräfte von morgen ausgebildet, sondern auch Betriebsleitende sowie Wirtschaftsberater und -prüfer.
Mittagstisch für bedürftige Studis
So gibt es laut dem Jubiläumsband der Uni in den Anfängen der Wirtschaftshochschule für Studierende staatliche Förderhilfen, ein Stipendium der Stadt sowie einen Mittagstisch lokaler Unternehmer für bedürftige Studiosi. Besonders aus der Region drängen die jungen Leute, die im Durchschnitt 24 Jahre alt sind, an die Lehranstalt, um das „vielbegehrte Diplom“ zu erhalten, wie der „MM“ ein Jahr nach der Eröffnung titelt. Nach dem Willen der Militärregierung soll ein Prozent der Studienplätze für sogenannte „Displaced Persons“, (Zwangsverschleppte in der NS-Zeit) vorbehalten sein. Das Ziel: Die akademische Ausbildung zum Betriebswirt soll die Chancen auf Emigration nach Übersee verbessern, schreiben die Historiker im Jubiläumsband. Größter Glücksfall der Hochschule ist neun Jahre nach der Neubegründung dann der Umzug in das eigens dafür restaurierte Mannheimer Schloss am 11. Mai 1955. Vier Millionen Mark spendiert das Land Baden-Württemberg für der Ausbau des Ostflügels, und der „MM“ ist sich nach der ersten Begehung der neuen Hörsäle und Räumlichkeiten sicher: „Die Studenten werden große Augen machen“, so die Schlagzeile.
1959, vier Jahre nach dem Umzug, betritt die 22-jährige Bohrer das erste Mal die Schlosshochschule und ist froh um das stetig erweiterte Angebot der philosophischen Abteilung. So kann sie neben der in ihren Augen trockenen BWL auch Spanisch als Nebenfach wählen, fährt dadurch auf Studienreise nach Spanien. „Unser Professor Walter Mönch war eine leuchtende Figur, er hat uns vieles fürs Leben mitgegeben, von Theater über Literatur bis zur Philosophie, da konnte man Finanzen und Steuern vergessen“, findet die pensionierte Lehrerin heute, die als Studentin jeden Pfennig fürs Theater gespart hat. In ihrem Studentenzimmer für 75 Mark Miete müssen Besucher sich mit günstigem Schmelzkäse und Toast begnügen und an nassen Kleidern vorbei drücken, die sie quer durchs Zimmer auf einer Wäscheleine trocknet. Ihre Diplomarbeit wird sie hier ohne Heizung auf der Schreibmaschine und dafür mit Mütze und Handschuhen schreiben, „die Verzweiflung beim Tippen “, so Bohrer, „war groß!“
Dass das Studium in Mannheim auch sein Leben maßgeblich geprägt hat, davon ist der heute 77-jährigen Axel Weber überzeugt, der unzählige Kartons voller Studentenzeitungen und Flugblätter im Keller aufbewahrt hat: „Ich verdanke der Uni mehr als der Schule, denn sie hat mich auf meinen eigenen Weg geführt.“ Für sein Studium muss der gebürtige Mannheimer 450 Mark pro Semester zahlen, er tritt ein Jahr später als Sozialreferent dem allgemeinen Studierendenausschuss (Asta) bei. Mit 23 Jahren wird er dann Präsident des Studierendenparlaments. Und erlebt, wie die Wirtschaftshochschule zur Universität wird. „Wir sind nun einige Probleme ärmer...“, zitiert der „Mannheimer Morgen“ die Reaktion des damaligen und bis dahin jüngsten Rektors der Hochschule, Kurt Bochardt, zur Namensänderung.
Umbenennung zur Uni kommt schneller als erwartet
Nur einen Tag zuvor hat der Innenminister Walter Krause die Umbenennung quasi in einem Nebensatz auf einer Podiumsdiskussion an der Hochschule verkündet. Das Fazit des „MM“-Reporters nach der Äußerung: Die Universität kam schneller als erwartet. „Der Begriff ist etwas besonders und war überfällig, denn die Wirtschaftshochschule hatte sich bereits ein breites Fächerspektrum aufgebaut“, ordnet Historiker Philipp Gassert diesen Meilenstein in die Geschichte ein. Mit der Änderung kommen laut „MM“-Bericht auch einige Erleichterungen wie vereinfachte Berufungsverfahren für Lehrende und Lernende, besonders an der Philosophischen Fakultät. Das neue Firmenschild „müsste sich auch werbend auf die Nachfrage auswirken“, heißt es in dem Artikel. Und signalisiere künftigen Bewerbern auch, dass man hier nicht nur Wirtschafts- und Sozialwissenschaften samt Fachrichtungen studieren kann, sondern auch Rechtswissenschaften oder Psychologie.
Während die Umbenennung und Umsetzung zur Universität Rektorat, Stadt und Politik beschäftigt, finden die Mannheimer Studierenden ihre eigene Stimme: Sie fordern ein konkretes Mitspracherecht etwa beim „Numerus Clausus, zwangsweiser Exmatrikulation, experimentellen Zwischenprüfungen und der soziokulturellen Egalisierung bei einem überfälligen Ausbildungsförderungsgesetz“, heißt es in Zeitungsberichten. Wie sehr das die jungen Studis beschäftigt, zeigt der Titel der Studentenzeitung „Die Ampel“, die im Juli 1967 erscheint: Dort werfen die jungen Zeitschriftenmacher die Frage auf: „Wie weit geht das politische Mandat der Studenten?“
„Parallel zur Umbenennung haben wir uns als Studierende politisiert und sind damit einem bundes- und weltweiten Trend gefolgt“, erinnert sich der Betriebswirt Weber, der damals den renommierten Marketing-Experten Hans Raffée als seinen Doktorvater gewinnen kann. In zahlreichen Protestaktionen machen zu dieser Zeit vor allem Studierende bundesweit und in Berlin ihrem Unmut über die innen- und außenpolitische Situation Luft. Aber in Mannheim, so Weber, bleibt es eher ruhig: Hin und wieder werden lediglich Vorlesungen gestört oder blockiert.
Eine Aktion im November 1966 sorgt aber für Aufsehen: Weil es an der Uni aus studentischer Sicht zu wenig Parkplätze gibt, greifen „die Studiosi selbst zur Schippe: Mit einem generalstabsmäßig vorbereiteten Angriff wollen sie mit einem Schlag ein brennendes Problem aus der Welt schaffen, die Parkplatznot“, schreibt die Lokalpresse. „Jeder zweite von uns fährt einen Wagen“, wird dabei eine Asta-Sprecherin zitiert. „Das waren einzelne Gruppen, von 3000 Studis waren 1000 Autofahrer! Am Ende hat sogar ein lokales Unternehmen mit einer Planierraupe geholfen, den Parkplatz zu bauen – die Stadt wusste von nichts“, erzählt der pensionierte Unternehmer. Zwar besitzt auch Weber damals ein Auto. Das dient ihm bis dahin aber nur für einen Zweck: Um nach Heidelberg zu fahren, schließlich tobt dort das Nacht- und Studentenleben in Clubs wie der Tangente. Seine künftige Frau lernt Weber in der Studentenkneipe „die Pupille“ in Mannheim kennen – denn mit der Namensänderung zur Uni blüt auch das Studentenleben in der Quadratestadt auf.
Die legendären Schneckenhofpartys
Berühmt und berüchtigt sind da schon die Feten der Norweger, durch die auch die legendäre Schneckenhofparty geboren wird. In den 1960ern ist jeder zweite Studierende aus dem Ausland aus Norwegen, schließlich erhalten sie für das Studium in Deutschland ein Stipendium. „Wir nannten sie die Kapitäne der Wirtschaft, die waren wirklich außer Rand und Band“, berichtet Ursula Bohrer. Ihr Examen macht sie 1961 und heiratet acht Tage später den akademischen Direktor des Auslandsamts der Hochschule, Kurt-Friedrich Bohrer. Das beschert ihr neben Dramen mit norwegischen Studierenden auch drei Mal in der Woche Besuch von Gästen aus der ganzen Welt im heimischen Wohnzimmer. Denn der Auslandsamtsleiter aus Leidenschaft betreut trotz vier gemeinsamer Kinder alle ausländischen Gäste der Uni mit viel Herz: egal ob Dozentinnen, Professoren, oder studentische Königssöhne und -töchter, ob aus Indien, den USA, Asien, Afrika, England oder dem damaligen Jugoslawien.
Große und kleine Sorgen der Norweger
„Er war zuständig für große und kleine Sorgen, besonders bei den Norwegern“, verrät Bohrer und muss lachen. Weil die aber nicht trinkfest sind und unbekümmert durchs Studium laufen, klingelt bei den Bohrers ständig das heimische Telefon: Mal ist es die Ausländerbehörde wegen verlorener Pässe, mal fehlt die Zulassung oder der Prüfling selbst, der seine Klausur verschläft. „Ein Norweger hat mal zu mir gesagt: ’Man ist nie ungetröstet aus Bohrers Büro gekommen’“, erinnert sich die 85-Jährige. „Das Studium in Mannheim war ein Garant, in Norwegen Karriere zu machen“, weiß auch Historiker Philipp Gassert. Der gute Ruf der wirtschaftswissenschaftlichen Ausbildung lockt so einige aus dem Königreich Norwegen nach Mannheim. Denn das sogenannte Ruhrgas-Stipendium für den Studienaufenthalt in der Quadratestadt belebt 15 Jahre lang den Austausch zwischen Studierenden und Forschenden.
Ob sie sich nach dieser turbulenten Zeit nicht doch manchmal fragt, wie ihr Leben als Schneiderin verlaufen wäre? „Es war gut, dass sich alles so entwickelt hat!“, sagt die vierfache Mutter und Großmutter vieler Enkel. Ursula Bohrer hält bis heute Kontakt zur Uni und ist Mitglied im Absolventum, einem der größten Studierendenverbände in Deutschland, gegründet von Marketing-Professor Hans Raffée. Auch ihre Lust aufs Lernen ist Bohrer selbst in der Rente nicht verloren gegangen – bis 1995 hat die Seniorin acht Jahre lang als Gasthörerin Vorlesungen zur Kunstgeschichte besucht.
Der Jubiläumsband zum 75-jährigen Bestehen ist beim Verlag Regionalkultur und im Uni-Campus-Shop erhältlich.
Forschungsgruppe Wahlen e.V.
1974 wird der Verein Forschungsgruppe Wahlen (FGW) von Mitarbeitern der Mannheimer Fakultät für Sozialwissenschaften gegründet. Die Gründung außerhalb der Uni ist eines der ersten Spin-off-Unternehmen.
Manfred Berger (†), Wolfgang Gibowski und Dieter Roth waren Mitarbeiter des „Wahlforschungsteams“ um Rudolf Wildenmann, das seit 1965 Hochrechungen und Prognosen für das ZDF durchgeführt hat.
Ab 1974 übernimmt die FGW die wissenschaftliche Leitung der Wahlforschung des ZDF. 1977 wird das Politbarometer erstmals veröffentlicht. Achtzehn Mal im Jahr wird heute damit die politische Stimmung, Einstellung und Meinung der Wähler erfasst.
ZEW
Das ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim ist eines der führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute und Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft.
1990 auf Initiative der baden-württembergischen Landesregierung, der Wirtschaft des Landes und der Universität Mannheim gegründet, nimmt es im April 1991 die Arbeit auf.
Heute wird etwa über Politik- und gesellschaftsrelevante Themen geforscht wie Digitalisierung, demografischer Wandel, europäische Integration und Energiewende. Das ZEW berät als Ansprechpartner politische Entscheidungsträger und bringt sich aktiv in die öffentliche Debatte ein.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Aufgabe der Uni Mannheim: Umweltbewusstes Denken lehren!