Vogelstang. In die Feierstimmung platzt er mit unbequemen Wahrheiten: „Es ist nicht alles Gold, was glänzt!“, warnt Gunter U. Heinrich, über 40 Jahre Vorsitzender des Gemeinnützigen Bürgervereins. Gerührt dankt er beim Festakt zum 60. Jahrestag der Grundsteinlegung der Vogelstang für die Ernennung zum Ehrenvorsitzenden. Aber ehe sich die Gäste aus Respekt vor seiner Lebensleistung erheben und ihm Applaus spenden, macht er viele sehr kritische Anmerkungen.
Zwar sei die Vogelstang „ein wunderbarer Stadtteil“. „Aber es verändern sich Strukturen, verändern sich Einwohner“, warnt er. Heinrich beklagt den Zustand des Einkaufszentrums („Qualität fehlt!“) und die hohen Wahlergebnisse der AfD („Da wird mir übel!“). Es gebe im Stadtteil „einiges zu tun“, sagt er. Zudem fordert er, im Stadtteil endlich eine Einrichtung nach dem früheren Oberbürgermeister und „Vater der Vogelstang“ Ludwig Ratzel (SPD) und dem ehemaligen CDU-Fraktionsvorsitzenden Roland Hartung, der das Projekt stets positiv begleitet habe, zu benennen. „Das sind Vorbilder, die fehlen heute!“, beklagt er.
Laut Oberbürgermeister Christian Specht ist aber Heinrich selbst ein solches Vorbild. „Es ist einzigartig, was Sie für den Stadtteil geleistet haben“, würdigt Specht den Einsatz von Heinrich. Gerne hat es das Stadtoberhaupt übernommen, nicht nur zum Jubiläum der Vogelstang zu sprechen, sondern im Auftrag des Bürgervereins auch einen der, wie er sagt, „Ureinwohner“ zu ehren. 1966 zählt Heinrich, der 1954 aus der DDR geflüchtet war, zu den ersten 200 Familien, die in den jungen Stadtteil ziehen. Sofort wird er Gründungsmitglied und Beisitzer im Vorstand des Gemeinnützigen Bürgervereins, 1983 dann Vorsitzender. Erst im Juni hat er den Vorsitz an seinen Sohn Gunter Heinrich jr. abgegeben. Das sei „ein unglaubliches ehrenamtliches Engagement“, so Specht. Schließlich biete der Bürgerverein in dem Stadtteil nicht nur „ein unglaubliches Programm“, unterhalte die Freizeitstätte im Einkaufszentrum und sei „identitätsstiftend für den Stadtteil“. Heinrich habe zudem die Schaffung des Bürgersaals initiiert, sei zeitweise Mitglied des Bezirksbeirats gewesen und habe bei seinen Neujahrsreden „immer den Politikern die Leviten gelesen“.
Besonders erinnert Specht an die 1980er Jahre, als der die Vogelstang prägende Baukonzern „Neue Heimat“ in Konkurs ging und die Mieter sehr große Angst vor Spekulanten hatten. Heinrich sei mit dem damaligen Ersten Bürgermeister Norbert Egger „der ganz große Wurf gelungen“, für die Mieter einen zehnjährigen Kündigungsschutz bei der Umwandlung der Miet- in Eigentumswohnungen zu erreichen und nach Ablauf dieser Frist eine weitere zehnjährige Verlängerung. Dazu habe er den damaligen Ministerpräsidenten Günter Oettinger „so lange oben auf einem Hochhaus festgehalten, bis er zustimmte“, so Specht lachend. „Es gibt wenige Personen, die sich in ähnlicher Weise für die Menschen eingesetzt haben“, zollt der Oberbürgermeister Heinrich hohe Anerkennung, ehe er ihm mit dem Vorsitzenden Gunter Heinrich jr. die Ehrenurkunde überreicht.
An die Vogelstang selbst hat das Stadtoberhaupt nur positive Erinnerungen. Auf dem Waldhof aufgewachsen, sei sein bester Freund damals in den neuen Stadtteil gezogen. „Es war immer ein besonderes Erlebnis, auf die Vogelstang zu kommen“, so Specht. Die Seen und die Spielplätze seien großartig gewesen, die hohen Hochhäuser „gewöhnungsbedürftig“, aber der Ausblick von dort „ein großes Erlebnis“.
Der Bau eines völlig neuen Stadtteils in dieser Dimension, auf einer Fläche so groß wie die Innenstadt, sei damals „für Mannheim etwas ganz Besonderes gewesen“. Specht erinnert an die große Rolle der gewerkschaftseigenen „Neuen Heimat“, aber auch die Bedeutung der anderen Bauträger Familienheim, Gartenstadt-Genossenschaft und GBG sowie die bewusste Mischung aus Mietwohnungen und Bungalows. „Zukunftsweisend, wenn nicht visionär“ sei gewesen, dass man bei der Planung „die Infrastruktur gleich mitgedacht“ habe, etwa den Nahverkehrsanschluss, das Einkaufszentrum, die Fernwärmeversorgung sowie die konsequente Verhinderung von Durchgangsverkehr.
Erfolgreiche Neugründung eines Stadtteils
Im Gegensatz zu neu gegründeten Großwohnsiedlungen in anderen Städten sei die Vogelstang ein „ganz, ganz großer Erfolg“ geworden, verweist Specht auf positive Einschätzungen: „Die Fachwelt blickt heute noch mit Anerkennung auf die Vogelstang!“
Auf die Tatsache, dass die Vogelstang inzwischen der Stadtteil mit dem höchsten Durchschnittsalter sei, werde die Politik reagieren, sagte er zu. Für eine Weiterentwicklung der offenen Altenhilfe habe die Stadt erfolgreich Fördermittel beim Sozialministerium eingeworben. Im Einkaufszentrum werde ein neuer Seniorentreff mit neuer Konzeption und Pflegestützpunkt eröffnet: „Ich bin zuversichtlich: noch vor dem Deutschen Seniorentag in Mannheim im nächsten Jahr“ (der findet Anfang April statt). Der Franklin-Steg werde gebaut und den Austausch mit dem neuen Stadtteil auf der anderen Seite der B 38 erleichtern. Der Gemeinderat habe die Vogelstang als Sanierungsgebiet ausgewiesen, „und ich hoffe, dass wir eine Lösung finden für die Skulptur von Hans Nagel“, so Specht unter dem Beifall der Zuhörer zu der verrottenden Großskulptur.
Auf planungs- und baugeschichtliche Aspekte des Stadtteils seit der Grundsteinlegung im September 1964 blickt dann noch Andreas Schenk, Architekturexperte des Marchivums, zurück. Die 22-stöckigen Hochhäuser seien etwa binnen fünfeinhalb Monaten errichtet worden. „Erstaunlich, wenn man das mit heutigen Bauzeiten vergleicht“, so Schenk. Der Bau des Stadtteils sei „eine enorme Leistung“ gewesen „und fand weit über Mannheim hinaus Beachtung“, etwa weil der Stadtteil so viele Grünflächen aufweise. Dank des Bürgervereins, „der immer die Finger in die Wunde gelegt hat“, weise die Vogelstang im Gegensatz zu anderen Großsiedlungen auch eine eigene Identität auf und sei daher eine erfolgreiche Neugründung, so Schenk.
Mit einem fröhlichen „Halleluja“ auf die Vogelstang begleitet die Kantorei des Stadtteils die Feier, die der Bürgerchor Vogelstang mit zwei eigens von seinem Leiter Florian Moser auf den Stadtteil umgedichteten Liedern aus dem „Weißen Rössl“ beginnt: „Im Bürgersaal auf der Vogelstang da steht das Glück vor der Tür“ und „Auf der Vogelstang da kann man gut lustig sein“.
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