Ludwigshafen. „Anı“. Das ist türkisch und steht für Erinnerung. Eine Erinnerung, wie sie in Ludwigshafen vielfach, tausendfach verankert ist. Tief verwurzelt in der Stadtgesellschaft, sichtbar in den Straßen, erlebbar im Laden oder Café nebenan. Vor etwas mehr als 60 Jahren, am 31. Oktober 1961, unterzeichneten die Bundesrepublik Deutschland und die Türkei das sogenannte Anwerbeabkommen. Es regelte die Entsendung von Arbeitskräften nach Deutschland. Schreiner und Maschinenschlosser, Bauern und Bauarbeiter, Ungelernte und Ausgebildete, Männer und Frauen - zahlreiche Menschen kamen als Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen in die noch junge Bundesrepublik. Nach dem Stopp des Anwerbeabkommens im Jahr 1973 mussten sie sich entscheiden: In die Türkei zurückkehren oder hier in Deutschland bleiben. Viele blieben und fanden eine neue Heimat.
Mit einer virtuellen Ausstellung erinnert das Ludwigshafener Stadtmuseum jetzt an 60 Jahre Anwerbeabkommen - „anı / Erinnerung, 60 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen – Alman-Türk işe alım anlaşmasının 60. Yılı“ heißt die zweisprachige digitale Schau, die ab sofort im Internet unter www.stadtmuseum.ludwigshafen.de zu sehen ist. In sieben Kapiteln (anı / Erinnerung, BRD / türkiye / Ludwigshafen, gurbet / Fremde, aile / Familie, hayat / Leben, kültür / Kultur, siyaset / Politik) wird das Leben der türkischen Gastarbeiterfamilien und ihrer Nachfahren in der Chemiestadt bildlich und textlich dargestellt - von etwa 1963, als die ersten Menschen aus der Türkei nach Ludwigshafen kamen, bis heute.
Die Ausstellung
- Die virtuelle Ausstellung „anı / Erinnerung, 60 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen – Alman-Türk işe alım anlaşmasının 60. Yılı“ ist ab sofort unter www.stadtmuseum.ludwigshafen.de zu sehen.
- Die Bilder und Informationen wurden im Stadtarchiv zusammengetragen. Konzipiert und kuratiert wurde die zweisprachige Ausstellung von Sarah Süß (Uni Heidelberg) im Auftrag von Regina Heilmann, Leiterin des Stadtmuseums.
- Das Museum wünscht sich, dass möglichst viele Menschen aus Ludwigshafen mit einer türkischen Einwanderungsbiografie die Bestände ergänzen. Texte und Bilder können per E-Mail an stadtmuseum@ludwigshafen.de geschickt werden.
„Teil meiner Identität“
Eines von vielen Gesichtern zu diesen Geschichten ist Osman Gürsoy. Auch der Großvater des heute 32-Jährigen kam einst als Gastarbeiter nach Deutschland. Gürsoy kam in Mannheim zur Welt, seit seinem fünften Lebensjahr lebt er in Ludwigshafen. Seit einigen Monaten ist er Ortsvorsteher der Nördlichen Innenstadt - der erste türkischstämmige in der Geschichte der Stadt. „Wie kaum eine andere Stadt wurde und wird Ludwigshafen am Rhein von seinen türkischstämmigen Bürgerinnen und Bürgern geprägt und mitgestaltet“, schreibt Gürsoy, der Schirmherr der Ausstellung ist, in seinem Vorwort. Rund 9000 Türken leben in Ludwigshafen. Es sei höchste Zeit, die Geschichten der Menschen sichtbarer und für die Öffentlichkeit zugänglicher zu machen, ihre Herausforderungen anzuerkennen und Leistungen zu würdigen.
„Als das Stadtmuseum auf mich zugekommen ist, habe ich sofort zugesagt“, berichtet Gürsoy im Gespräch mit dieser Redaktion. „Diese Geschichte ist Teil meiner Identität. Viele Türkinnen und Türken finden sich darin wieder.“ Die Ausstellung, in der zahlreiche Bilder aus den Beständen des Stadtarchivs gezeigt werden, könne so einige Erinnerungen wieder aufleben lassen und bei dem einen oder der anderen für Wehmut sorgen, so Gürsoy.
Diskriminierung noch Alltag
Die digitale Ausstellung soll den gesamten Prozess beleuchten. „Denn Erinnerung heißt Anerkennung. In diesem Fall bedeutet das die Anerkennung der Leistungen von Gastarbeitenden und ihren Familien, die Würdigung ihres Beitrags zum Wohlstand, dem Aufbau Nachkriegsdeutschlands und schließlich auch die Entwicklung einer friedlichen, demokratischen Gesellschaft“, schreibt die Stadt. Allzu oft würden die Geschichten in der deutschen Erinnerungskultur vergessen.
Einzelne Bilder untergliedern die dazugehörigen Informationstexte in den Kapiteln. Weitere Fotografien sind zu Galerien zusammengefasst. Das Anwerbeabkommen ist dort im Original nachzulesen, der Besucher erhält Eindrücke von der Arbeit der Neuankömmlinge, von deren Unterbringung, ihrem Familienleben, ihren Festen und Feiern.
Heute seien ehemalige Gastarbeiter, ihre Kinder und Enkel ein wichtiger Teil der Ludwigshafener Gesellschaft, aber eine völlige Anerkennung dessen fehle, steht am Ende geschrieben. Benachteiligungen, Diskriminierungen und Rassismus seien im beruflichen und privaten Leben noch Alltag. Deshalb sei die Integrationsarbeit der Stadt auch noch lange nicht beendet.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Lehre für die Zukunft: Deutschland ist ein Einwanderungsland