Mannheim. Vor 60 Jahren hat Deutschland mit der Türkei ein Abkommen zur Anwerbung von sogenannten Gastarbeitern geschlossen. Viele Türken kamen auch nach Mannheim, um dort einige Jahre zu arbeiten. So jedenfalls war der Plan. Denn viele blieben ihr ganzes Leben, ihre Kinder und manchmal sie selbst wurden zu Mannheimerinnen und Mannheimern. Wir erzählen die Geschichten von vier Familien.
In Mannheim Wurzeln geschlagen
Wenn es Menschen gibt, die als „Großherzigkeit in Person“ bezeichnet werden können, dann gehört Familie Görken zu ihnen. Mit einem breiten Lächeln und offenen Herzen begrüßen Mehmet und Gülistan Görken ihre Gäste in ihrer Wohnung in der Mannheimer Schwetzingerstadt. Sie sind vor über 50 Jahren in Verbindung mit dem Anwerbeabkommen mit der Türkei nach Deutschland gekommen. Mehmet im Jahr 1968 als Gastarbeiter, seine Frau folgte ihm 1970 zwei Jahre später.
„Ich war mit dem Militärdienst fertig und brauchte Arbeit“, erklärt Mehmet, wieso er nach Deutschland gekommen ist. „Zuerst war ich in Ettlingen in Karlsruhe“, berichtet er. Dort bleibt er allerdings nur drei Monate – sein Vater arbeitet da bereits seit einigen Jahren in Mannheim. Also fängt auch er bei einer Firma in der Quadratestadt an.
Als ihm seine Frau 1970 nach Deutschland folgt, lebt er noch im Männerwohnheim. „Dort habe ich dann neben all den Männern geschlafen“, erinnert sich Gülistan zurück, „Ich habe mich dort nicht wohlgefühlt.“ Deshalb ziehen sie direkt am nächsten Tag um.
Damit hören die Schwierigkeiten jedoch keinesfalls auf. Vor allem die Sprachbarriere führt zu Komplikationen. Mehmet erinnert sich: „Wir haben uns die Einkaufsliste immer auf die Hand geschrieben.“ So konnten sie die Buchstaben abgleichen und zur Not nachfragen, wo sie etwas finden. „Fragen hilft immer“, sagt auch Gülistan mit einem wissenden Lächeln. Sie habe ganze zehn Jahre gebraucht, bis sie ohne Hilfsvokabeln auf der Hand in den Supermarkt gehen konnte. Mehmet lernte die Sprache schneller, da er auf der Arbeit mehr mit ihr in Kontakt war. Kurse habe es nicht gegeben, da der Aufenthalt der Gastarbeiter nur temporär geplant war.
Denkmal aus Bäumen auf Spinelli
Eine Baumgruppe aus unterschiedlichen Kiefern aus den acht Herkunftsländern soll künftig an die Ankunft und Bedeutung der ersten Gastarbeiter erinnern.
Sie werden am Eingang der Bundesgartenschau am Aubuckel/Wingertsbuckel gepflanzt. Die Kosten schätzt die Stadtverwaltung auf 200 000 Euro. „Wir haben den Auftrag, das umzusetzen“, so Michael Schnellbach, der Geschäftsführer der Bundesgartenschau.
Der Erinnerungsort soll bis zum Beginn des sommerlangen Fests im April 2023 entstehen und danach dort bleiben – zumal dann dort keine Zufahrt mehr geplant ist, sondern nur noch eine Grünfläche mit Geh- und Radweg.
„Der Platz soll eine große Aufenthaltsqualität bieten, mit Sitzgelegenheit und Hinweistafel“, so Schnellbach. Das Konzept ist im Integrationsausschuss vorgestellt und vom Gemeinderat gebilligt worden. „Es ist ein greifbares Symbol, das die Geschichte der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter sichtbar macht“, findet SPD-Stadträtin Claudia Schöning-Kalender. „Ein wichtiger Impuls ist auch die Einbindung dieser Zeitzeugen, die im Denkmal selbst eine Stimme bekommen“, fährt sie fort.
Geplant ist, dass die Besucher mit QR-Codes ihre Geschichten per Handy abrufen können. „Dadurch entsteht kein starres Denkmal, sondern ein lebendiger Erinnerungsort, in dem sich die Menschen direkt mit den Erlebnissen und Erfahrungen auseinandersetzen können,“ findet die Stadträtin. Langfristig ist in der Innenstadt aber ein weiteres, dann künstlerisch gestaltetes Denkmal geplant. pwr
Dass ihr Aufenthalt in Deutschland nicht temporär bleibt, wird jedoch auch Mehmet klar, während er seine Kinder in Mannheim aufwachsen sieht. „Mein Vater wäre auch gerne zurück in die Türkei gegangen, aber meine Mutter wollte von Anfang an hier bleiben“, sagt Sohn Güngör Görken. Seine Mutter stimmt ihm lachend zu. Sie habe sich – bis auf die Nacht im Männerwohnheim – von Anfang an wohlgefühlt. „Sie hat auch viel mit behinderten Menschen gearbeitet und Kindern bei den Hausaufgaben geholfen“, erzählt Güngör, stolz auf das Engagement und die Offenherzigkeit seiner Eltern. Mehmet erklärt hierzu: „Menschen sind Menschen.“
Die Familie hat sich trotz der fehlenden Integrationsprogramme in den Anfängen des Abkommens nicht unterkriegen lassen. Bis heute gestalten sie die Gesellschaft in Mannheim aktiv mit. Gülistan besucht zudem weiterhin Kurse an der Abendakademie, um weiter Deutsch zu lernen und sich zu engagieren. Güngör betont: „Wir sehen uns nicht als Opfer.“ Seit 1995 hat die ganze Familie die deutsche Staatsbürgerschaft und sieht sich auch als Teil der Lobby für Integration von Türken in Deutschland. „Es ist wunderschön, zwei Kulturen zu kennen und zu vereinen“, weiß Güngör. „Deutschland ist sehr lebenswert, und es gibt viele Dinge, die wir zu schätzen wissen“, fährt er fort.
Deshalb hat auch das Ehepaar seine Wurzeln in Mannheim geschlagen. „Heimat ist, wo man verwurzelt ist,“ sagt Mehmet. Und Gülistan ergänzt lachend: „Wir sind Monnemer, nur ein bisschen anders.“
Auf Deutsch denken, aber türkisch essen
Korkmaz Demiröz lebt seit 45 Jahren in Mannheim. Er spricht mit leichtem kurpfälzischem Akzent. Wie ein waschechter Monnemer. Geboren wurde der verheiratete Familienvater jedoch im anatolischen Konya. „Im Alter von drei Jahren bin ich nach Deutschland gekommen.“ Im Kindergarten lernte er Deutsch. Er gilt als zweite Generation der Gastarbeiter aus der Türkei. Den Begriff „Gastarbeiter“ mag Demiröz überhaupt nicht. „Wenn die Leute Gastarbeiter sagen, ist das psychologisch schon eine Hemmschwelle“, erklärt er. „Wenn ich zu jemanden sage: Du bist ein Gastarbeiter, heißt das, du gehst wieder“, sagt er. „Damit verhindert man im Prinzip, dass die Leute sich integrieren. Ein Gast bleibt keine 45 Jahre.“ Von den Türken, die er kannte, seien maximal zehn Prozent zurückgekehrt.
Sein Vater kam 1973 allein auf die Hochstätt. „Er wollte so schnell wie möglich Geld verdienen und dann wieder zurück in die Türkei.“ Doch er fühlte sich einsam. „1976 hat er meine Mutter, meine Schwester und mich zu sich geholt.“ Lediglich sein damals 13-jähriger Bruder blieb in der Türkei, um die Schule zu beenden. Er folgte 1978. Sein Vater bekam dann eine neue Stelle bei John Deere. „Dann war klar, dass meine Eltern nicht mehr zurückgehen.“ Der Gedanke sei für seine Eltern schmerzhaft gewesen. „Besonders für meine Mutter“, verrät er. Denn sie habe ihre Familie zurückgelassen.
Der Industriemeister für Chemie, der seit 30 Jahren bei der BASF arbeitet, ist auf der Hochstätt aufgewachsen. „Ich war hier der erste Türke, der auf der Realschule war.“ Anschließend machte er eine Ausbildung bei der BASF, packte einen Bachelor drauf. Demiröz setzt sich als Vertrauensmann für die Belange seiner Kollegen ein und ist Teil des Elternbeirats. Seine Frau stammt aus dem gleichen Dorf wie er. Die sechsjährige Tochter besucht die gleiche Grundschule wie ihr Papa, und sein 23-jähriger Sohn studiert Angewandte Informatik. Der junge Mann betrachte Deutschland als sein Heimatland. Wie sein Vater.
Sein Geburtsland verbindet Demiröz mit Urlaub. „Ich war jeweils in den Sommerferien für sechs Wochen in der Türkei. Da hast du die Verwandten gesehen“, erinnert er sich. Sein richtiges Leben habe jedoch in Deutschland stattgefunden. Dort hatte er seine Freunde und spielte Fußball. 1993 war er einer der Gründungsmitglieder des FC Hochstätt Türkspor.
Hilfe für Mannheims Wirtschaft
Das „deutsche Wirtschaftswunder“ brauchte immer mehr Arbeitskräfte. Die Bundesregierung schloss deshalb zwischen 1955 und 1968 mit mehreren Staaten sogenannte Anwerbeabkommen – das erste 1955 mit Italien, 1960 folgten dann Vereinbarungen mit Spanien und Griechenland und am 30. Oktober 1961 schließlich das Abkommen mit der Türkei. Letzteres war unter anderem auch deshalb ausgehandelt worden, weil es immer schwieriger geworden war, Arbeiter aus Italien und Spanien zum Kommen zu bewegen. Denn auch in diesen Ländern wuchs die Industrie, viele wollten da lieber in der Heimat ihr Geld verdienen.
Aber es gab ja das Abkommen mit der Türkei. Und so fragte der „Mannheimer Morgen“ Ende 1961 in einer Schlagzeile: „Kommen im nächsten Jahr die Türken?“. Sie kamen. Arbeiteten 1961 gerade mal 70 Menschen aus dem Land am Bosporus in der Stadt, waren es zwei Jahre später bereits knapp 5000. Zunächst sollten die sogenannten Gastarbeiter nur zwei Jahre bleiben – aber die Befristung wurde aufgehoben, weil die Firmen auf diese Mitarbeiter nicht verzichten wollten. Nach einer kurzen Delle durch die Rezession 1966/67 verkündete der damalige Arbeitsamtsdirektor Hans Stöhr im August 1968 mit viel Pathos: „Ein so leer gefegter Arbeitsmarkt wie der Mannheimer schreit nach ausländischen Arbeitskräften.“ Er meinte damit in erster Linie solche aus Griechenland – und der Türkei.
Festabend im Nationaltheater
Weil das Leben mehr als nur Arbeit ist, entstand 1969 mit städtischer Unterstützung der „Türkische Arbeiterverein für kulturelle und soziale Unterstützung“. Seine Räume hatte er in der Breiten Straße, hier gab es türkische Zeitungen genauso wie Hilfe bei der Suche nach einem Arzt, der die eigene Sprache beherrscht. Bis die ersten Döner-Buden das Stadtbild prägten, sollte es freilich noch bis zum Beginn der 1980er Jahre dauern.
Im Nationaltheater gibt es an diesem Freitag um 18 Uhr einen großen Festabend zum Jubiläum des Anwerbeabkommens – gemeinsam organisiert vom Theater und dem Deutsch-Türkischen Institut für Arbeit und Bildung. Dabei wird auch der Dokumentarfilm „Ah, biz Almancilar/Ach, wir Deutsch-Türken – Wann verliert man eigentlich den Migrationshintergrund?“ vorgestellt. Danach steht ein musikalischer Theaterabend unter dem Titel „Istanbul“ auf dem Programm. Er soll laut den Organisatoren die Menschen würdigen, die sich damals aus der Türkei auf den Weg nach Deutschland gemacht und hier in Mannheim „maßgeblich zum wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben beigetragen haben und weiterhin beitragen.“ Die Corona-bedingt beschränkte Teilnehmerzahl für den Abend ist ausgeschöpft.
Der Industriemeister lebt beide Kulturen. „Ich schaue etwa mehr deutsches Fernsehen, bevorzuge aber türkisches Essen, weil es mir besser schmeckt“, sagt er. „Und ich denke auf Deutsch.“ Den deutschen Pass besitzt er trotzdem nicht. Als er die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen wollte, sei er sehr unfreundlich behandelt worden. „Das hat mich dermaßen gekränkt“, gesteht der 48-Jährige. „Es sagt einem, du bist kein Teil von uns.“
Irgendwann in die Türkei zu ziehen, diesen Gedanken hegt Demiröz nicht. „Die Mentalität ist ganz anders. Die Türken sind gechillt, ich bin es nicht“, sagt er und lacht. „Ich könnte mir aber vorstellen, im Rentenalter am Strand ein Haus zu kaufen und drei bis vier Monate im Jahr dort zu verbringen.“ So wie es sein 78-jähriger Vater und seine 75-jährige Mutter tun.
Die Deutschlehrerin mit türkischem Namen
60 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen: Für Neslihan Küçük-Langer ist dieser Tag auch ein Anlass, sich intensiv mit ihrer Familiengeschichte auseinanderzusetzen. „Als Sie mich für ein Gespräch angefragt haben, habe ich erstmal meine Großeltern anrufen und fragen müssen: ,Wann seid ihr eigentlich nach Deutschland gekommen?’ und ,Wie war das damals?’“, sagt sie.
Neslihan Küçük-Langer selbst ist in Deutschland geboren. Sie hat die deutsche Sprache erst im Kindergarten gelernt, spricht sie aber fließend und vollkommen akzentfrei. Ja, wer ganz genau hinhört, der merkt hier und da sogar einen leichten schwäbischen Einschlag: Küçük-Langer stammt aus Ulm, hat in Weingarten am Bodensee studiert. Seit 2012 arbeitet die 35-Jährige in Mannheim an der Johannes-Kepler-Gemeinschaftsschule, deren stellvertretende Direktorin sie ist. Dass sie Kinder auch im Fach Deutsch unterrichtet, mag manchen angesichts ihres Namen wohl auch im Jahr 2021 noch überraschen. Für Küçük-Langer selbst ist das aber eine vielleicht sogar logische gesellschaftliche Entwicklung. So wiederholt sie mehrfach zwei Botschaften. Eine: „Dass dieser Jahrestag thematisiert wird und wir darüber sprechen, zeigt, dass wir als Gesellschaft auf einem guten Weg sind, immer näher zusammenzukommen.“
Der Weg zur Annäherung ist lang. Das zeigen die Biographien von Eltern und Großeltern der Lehrerin. „Nette Menschen kamen in der Türkei in die Dörfer und haben nach jungen, gesunden, starken Männern gesucht, die nach Deutschland zum Arbeiten wollen“, gibt Küçük-Langer Erzählungen ihrer Großeltern wieder. 1965 kommt einer ihrer Großväter nach Deutschland. Zunächst allein. „Mein Opa kam zehn Jahre lang einmal im Sommer in die Türkei zu meiner Oma und hat seine Kinder immer nur dann gesehen.“ Erst zehn Jahre später, 1975, kommen auch die Eltern der Lehrerin „als Jugendliche“ nach Deutschland, wo ihr Vater bis heute als Taxifahrer arbeitet.
Während ihr Großvater über seine Arbeit Anschluss findet, sagt Küçük-Langer: „Bis heute sehe ich nicht, dass meine Eltern ein wirklicher Teil der Gesellschaft sind.“ Es habe ihnen nicht an Integrationswillen gefehlt. Im Gegenteil: „Meine Mama war sehr daran interessiert, an allen unseren schulischen Veranstaltungen teilzunehmen“, sagt Küçük-Langer. Ihre Schwester und sie versuchen, der Mutter die Sprache beizubringen, übersetzen in Gesprächen und auf Elternabenden. Auffangen können sie aber nicht alles. Das Alter und lange Zeit fehlende Integrationskurse tun ihr Übriges. Ihre Eltern sind „nicht unglücklich“. Aber: „Es hat strukturell vieles nicht funktioniert.“
In Deutschland geboren. Zur Schule gegangen. Eine Familie gegründet. Aber auch immer wieder mit der türkischen Kultur ihrer Vorfahren konfrontiert. Was bedeutet in einem solchen Leben der Begriff „Heimat“? Nichts Geographisches. „Es ist für mich ein Gefühl.“ Menschliche Begegnungen wecken dieses genauso wie die schwäbische und türkische Sprache oder deutsches und türkisches Essen, erklärt sie.
Und dann gibt es ja noch die zweite Botschaft. Die, die ihr „besonders wichtig“ ist: „Migrationshintergrund bedeutet nicht immer Bildungsferne.“ Natürlich dürfe man nicht verkennen, dass es „in vielen Fällen so ist“. Aber: „Eben nicht immer. Das müssen wir voneinander loslösen und dürfen es nicht immer miteinander gleichsetzen.“ Als Lehrerin weiß sie, wovon sie spricht.
Marchivum sammelt Geschichten
Die Gastarbeiter waren nicht die ersten Migranten in Mannheim. Die gesamte Stadtgeschichte ist von Zuzügen geprägt – und ohne Einwanderer wäre der Festungsbau ab 1607, der Wiederaufbau nach dem Dreißigjährigen Krieg 1649, nach den heftigen Zerstörungen im Französischen Erbfolgekrieg 1689 oder auch der wirtschaftliche Erfolg späterer Jahrhunderte nie gelungen.
Das belegt jetzt der erste Band der neuen Reihe „Veröffentlichungen zur Migrationsgeschichte“ vom Marchivum. Glaubensflüchtlinge und Arbeitssuchende, berühmte Künstler und Taglöhner, Vertriebene – die reich bebilderte neue Publikation beleuchtet die großen Zusammenhänge bis hin zu aktuellen Geschehnissen der 1990er Jahre, aber auch viele kleine spannende Geschichte über einzelne Menschen und stellt eine Stadtgeschichte der ganz besonderen Art dar.
Der Band wurde in Kooperation mit dem Historischen Institut der Universität und mit Unterstützung vom Freundeskreis Marchivum von Philipp Gassert, Ulrich Nieß und Harald Stockert im Verlag Regionalkultur herausgegeben.
Es ist nur der Anfang von einem größeren Forschungsprojekt, mit dem der Gemeinderat das Marchivum beauftragt hat. Es soll die Migrationsgeschichte ab 1945 nicht allein aus amtlichen Unterlagen, sondern aus der Perspektive der Zuwanderer dokumentieren. Dazu sammelt das Marchivum Unterlagen von Zuwanderer-Vereinen und mit dem Thema befassten Institutionen sowie persönliche Erinnerungen und Geschichten. pwr
Opfer für eine bessere Zukunft
Bülent ist das erste Kind der Familie Yaman, das in Deutschland eingeschult wird. Am ersten Schultag stehen alle Kinder mit ihren Eltern auf dem Hof und haben Schultüten im Arm. Nur Bülent hat keine. „Das wussten meine Eltern nicht“, sagt Bülent Yaman, der mittlerweile 45 Jahre alt ist und selbst drei Kinder hat. Er kennt die Rituale von Schultüten, die mit Süßigkeiten gefüllt sind. „Meiner Mutter tat das furchtbar leid, sie hat mir, nachdem wir wieder zu Hause waren, sofort eine Schultüte besorgt“, sagt Bülent Yaman.
Dort, wo seine Eltern herkommen, gab es vor 60 Jahren weder Schultüten noch Schulen. Zumindest keine in jedem Dorf. So gehen seine Mutter und sein Vater auch nur wenige Jahre zur Schule, lesen und schreiben lernen sie so gut wie nicht. Das Dorf, in dem sie leben, heißt Erzincan und liegt in Anatolien. Es sind die 1960er Jahre, die Menschen sind arm, die Arbeitslosigkeit ist hoch. Da hört Bülent Yamans Vater von dem Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und Deutschland. Hasan Yaman arbeitet damals in einer Textilerei in Istanbul, er ist jung verheiratet, seine Frau lebt in Erzincan, Hasan Yaman kommt nur am Wochenende nach Hause. Er bewirbt sich. Hasan Yaman hat fünf Brüder, die wollen nicht, dass er nach Deutschland geht. „Warum gehst du und lässt die Familie zurück?“, fragen sie. Vergeblich wartet Hasan Yaman auf eine Zusage. Monate später fragt er noch einmal bei den Behörden in Istanbul nach und erfährt, dass seine Anwerbung erfolgreich war, er sich aber nicht zurückgemeldet habe. Das Schreiben ging an seine Heimatadresse, seine Brüder hatten es zerrissen. „Aus Liebe, sie wollten nicht, dass er geht“, erzählt Bülent Yaman. Nach Deutschland, in ein Land, von dem keiner weiß, wo genau das überhaupt liegt. Ein Radio, geschweige denn einen Fernsehapparat hat keiner im Dorf.
Hasan Yaman bewirbt sich erneut und erhält ein Angebot von Porsche in Stuttgart. 33 Jahre alt ist er da. In drei Tagen und drei Nächten fährt er mit dem Zug nach Deutschland. „Er wollte ein oder zwei Jahre bleiben, Geld verdienen und dann nach Hause zurückkehren.“ Das dachten sich viele Gastarbeiter, und so ließen sie ihre Familien zunächst in der Heimat zurück. Von Stuttgart wechselt Hasan Yaman bald zu Daimler Benz nach Mannheim. Das Heimweh ist groß, der Kontakt zur Familie spärlich. „Es gab ja keine Handys, mein Vater hat Briefe geschrieben, die kamen drei oder vier Wochen später an“, sagt Bülent Yaman. Sein Vater sieht, wie Kinder in Deutschland aufwachsen und beschließt, dass seine Frau mit den Kindern nachkommen soll. Für ein paar Jahre nur, so denken sie. Die Familie erhält eine Wohnung auf der Schönau, die Kinder gehen in den Kindergarten, zur Schule, machen eine Lehre. So folgt ein Jahr aufs nächste. Sein Vater arbeitet weiter bei Daimler, und auch der Sohn beginnt dort eine Lehre. Für ihn ist Deutschland, ist Mannheim die Heimat. Auch für seine fünf Schwestern. Für die Eltern bleibt es die Türkei. „Die Kindheit prägt, das bleibt im Herzen.“
Inzwischen ist Bülent Yamans Vater verstorben. Die Mutter lebt weiter auf der Schönau, in den Wintermonaten aber reist sie in die Türkei, trifft alte Freundinnen und Familienmitglieder. „Meine Eltern haben ihr Leben geopfert, damit wir Kinder einmal eine bessere Zukunft haben, dafür kann man ihnen nicht genug danken“, sagt Bülent Yaman. Seine Mutter habe davon geträumt, einmal Auto zu fahren. Doch die sprachlichen Hürden sind zu hoch, richtig Deutsch sprechen lernt sie nie. „Meine Mutter hatte sechs Kinder, um die sie sich kümmern musste, und den Haushalt, da blieb kaum Zeit“, sagt Bülent Yaman.
Übrigens gibt es von Bülent Yaman doch noch das klassische Einschulungsfoto mit Schultüte. „Ein Mädchen hatte sich überreden lassen, mir ihre Schultüte für ein Foto zu leihen.“ Sie war rosa, mit dem Bild eines Mädchens an einer Staffelei. Bülent Yaman besitzt es bis heute.
Dossier zum Thema Anwerbeabkommen
Warum es zu der Vereinbarung kam, wie das Verhältnis zwischen „Gastarbeitern“ und Deutschen war und wie die Bilanz nach 60 Jahren Anwerbeabkommen aussieht, erfahren Interessierte bei der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/metropolregion_artikel,-neue-heimat-in-einer-fremden-stadt-60-jahre-deutsch-tuerkisches-anwerbeabkommen-_arid,1871838.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim.html
[2] https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim/schwetzingerstadt-oststadt.html
[3] https://www.mannheimer-morgen.dehttps://www.mannheimer-morgen.de/firmen_firma,-_firmaid,20.html
[4] https://www.lpb-bw.de/anwerbeabkommen-tuerkei
Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Lehre für die Zukunft: Deutschland ist ein Einwanderungsland