Eine Randnotiz in unserer Erinnerungskultur „wird dem Beitrag der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter für unser Land nicht gerecht“, sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier jüngst beim Festakt der Türkischen Gemeinde in Deutschland. Vor 60 Jahren wurde das deutsch-türkische Anwerbeabkommen unterzeichnet. Dass das Jubiläum offiziell gefeiert wird und die Leistungen der Gastarbeiter politisch anerkannt werden, ist bemerkenswert - vor zehn Jahren etwa gab es solche Termine kaum.
Dabei wäre das Wirtschaftswunder auch ohne türkische Gastarbeiter nicht möglich gewesen. Und noch heute sind ihre Impulse und die ihrer Nachkommen sichtbar, auch in der Region: etwa in der Gastronomie, im Sport (Fußballspieler Hakan Calhanoglu), in der Kultur (Bülent Ceylan, dessen Vater schon 1958, nicht nur der Arbeit wegen, nach Deutschland kam) oder in Mainz, wo Ugur Sahin und Özlem Türeci einen Impfstoff entwickelt haben. In Mannheim stellen Türken mit knapp 16 000 die größte nicht-deutsche Bevölkerungsgruppe.
Aber das Zusammenleben wird auf harte Proben gestellt. Da gab es Anschläge auf Gastarbeiter, etwa in Solingen 1993, oder die Morde des NSU. Auch politische Diskussionen polarisieren, etwa um den türkischen Präsidenten Erdogan, der seine Legitimation auch mit Stimmen von in Deutschland lebenden Türken begründet und der Bundestagsabgeordnete mit Migrationshintergrund in der Armenien-Debatte massiv unter Druck setzte. Oft wäre dazu ein noch lauterer Aufschrei der türkischen Gemeinschaft in Deutschland wünschenswert gewesen.
Deutschland ist ein Einwanderungsland. Dies gilt es sich immer wieder bewusst zu werden. Lange ist das nicht geschehen. Ein Fehler, der sich bis heute auswirkt, etwa wenn Gastarbeiter der ersten Generation mangels Bildungsangebote die Sprache nicht zu Genüge beherrschen. Wer Integrationswillen fordert, muss auch selbst den Willen aufbringen, diesen zu fördern.
Im Bundestag sitzen nun so viele Abgeordnete mit Migrationshintergrund wie nie: 11,3 Prozent, unter ihnen die Mannheimerin Melis Sekmen, deren Vater als türkischer Arbeiter nach Deutschland kam. Dass etwa 26 Prozent der Bevölkerung einen Migrationshintergrund haben, zeigt, dass die Repräsentanz noch nicht ausgewogen ist. Dabei wird sich Geschichte wiederholen: der Fachkräftemangel ist enorm, der Bedarf an Zuwanderung riesig. Die 60 Jahre können dabei in großen Teilen als Lehrstück dienen. Gastarbeiter werden auch künftig mehr sein als eine Randnotiz.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Lehre für die Zukunft: Deutschland ist ein Einwanderungsland