Ludwigshafen. Das Phänomen VfB Stuttgart müsste es in der Ludwigshafener Gräfenauschule geben: Im Sommer so gut wie sitzen geblieben - nun nahe an der Herbstmeisterschaft. Manchmal hilft im Fußball einfach nur ein Trainerwechsel, das Drehen an ein paar Stellschrauben und ein Toptransfer. In der Bildung ist das anders, denn in der Grundschule im Problemviertel Hemshof ist bis auf Weiteres nicht zu erwarten, dass sich eine rasche Kehrtwende ergibt. Und das, obwohl es zu einem großen Aufschrei gekommen war, nachdem Schulleiterin Barbara Mächtle im Frühjahr öffentlich gemacht hatte, dass 39 von 126 Kindern das Ziel der ersten Klasse nicht erreichen würden und daher sitzen blieben.
Wir haben Kinder, die sehr viel Aufmerksamkeit brauchen.
Im Gegensatz zum Profifußball kann die Grundschule ihre Schüler nicht einfach aus der Mannschaft werfen oder verkaufen. Insofern ist die Rektorin nicht sehr zuversichtlich, dass sich die reine Statistik im kommenden Frühjahr anders liest als zuletzt. Im Gespräch mit dieser Redaktion geht Mächtle davon aus, dass die Quote derer, die sitzen bleiben, sich im kommenden Halbjahr nicht wesentlich verändern wird.
Warum sollte es auch besser aussehen? Weiterhin gibt es zu viele Kinder, die zwar in Deutschland und womöglich sogar im Hemshof geboren sind, aber zur Einschulung ohne deutsche Sprachkenntnisse kommen. Ganz zu schweigen von denen, die erst seit kurzer Zeit in Ludwigshafen leben. Abgesehen von der schieren Masse, die zu groß sei, um alle gleichermaßen gut mitnehmen zu können, fehlten einfach viele Mittel - beim Personal angefangen. Für eine Erleichterung hatten zu Beginn des Jahres 16 Studierende von der Universität in Landau gesorgt.
Deutsche Sprache nicht gelernt
In nahezu jeder Klasse waren täglich also eine obligatorische Lehrkraft und zusätzlich jemand, der sich individuell kümmern konnte. Prompt habe es Kollegen gegeben, die Fortschritte bei den Kindern festgestellt hätten. „Erfolge waren sichtbar“, sagt Mächtle. Stellenweise sei Stationenarbeit möglich geworden. Doch von langer Dauer war das nicht. Sechs Wochen nach Schuljahresanfang war das Projekt wieder beendet und der Alltag kehrte spätestens mit dem Ende der Herbstferien zurück. Dieser sah in den vergangenen Tagen so aus, dass ein Viertel der Lehrkräfte aus Krankheitsgründen fehlte. Mächtle stuft das als „normal“ ein. Hilfreich, um verhaltensauffällige Kindern in ihrer Lebenswelt abzuholen, ist es sicherlich nicht, wenn unter ohnehin widrigen Umständen 25 Prozent des Kollegiums fehlen. „Wir haben weiterhin Kinder , die sehr viel Aufmerksamkeit brauchen“, stellt die Schulleiterin fest.
Die von der Politik nun sachte angestoßenen strukturellen Veränderungen sind im Alltag der Schulen in Ludwigshafen noch lange nicht angekommen. Aber immerhin: Es gebe kleine Zeichen, die etwas Hoffnung machten, sagt Mächtle. Dazu gehört auch, dass in der vergangenen Woche erstmalig ein Runder Tisch zur Grundschulkrise in Ludwigshafen stattgefunden hat - etliche Monate nach dem lautesten Hilfeschrei, den eine Grundschullehrerin in Deutschland wohl jemals in die Öffentlichkeit gesendet hat. Und: Die Gräfenauschule ist nur eine von 23 Grundschulen in Ludwigshafen. Jede einzelne hat ihre spezifischen Probleme, die - vielleicht von Ruchheim abgesehen - jeweils heftiger sind, als man das aus dem Speckgürtel der Metropolregion kennt.
Es fehlen 2000 Kita-Plätze
In der Chemiestadt ist der Anteil und die Fluktuation migrantischer Bevölkerung aus Südosteuropa höher als in den meisten Orten der Metropolregion. Virulent ist vor allem das Sprachdefizit der Kinder von Sinti und Roma. Dennoch oder gerade deshalb beschrieben die Elternvertreter den Runden Tisch mit einem Staatssekretär aus dem Mainzer Bildungsministerium, Schulleitern, Aufsichtsbehörde und Oberbürgermeisterin Jutta Steinruck sowie Sozialdezernentin Beate Steeg anschließend als konstruktiv und zielorientiert. Dort sei der konkrete Wunsch nach einer landesfinanzierten Sprachförderung der Kinder vor dem Eintritt in die erste Klasse vom Vertreter des Bildungsministeriums mit nach Mainz genommen worden. Allen ist offenbar klar, dass die Sprachkompetenz die entscheidende Komponente für den Bildungserfolg bei Kindern darstellt. Ludwigshafen ist nach allem, was man über das knappe Personalkorsett und die überbordenden Schulden der Stadt weiß, nicht dazu in der Lage, ein eigenes Hilfsprogramm zu starten. Im Gegenteil: Es fehlen aktuell 2000 Kita-Plätze, für die es nach rheinland-pfälzischer Gesetzgebung einen Rechtsanspruch gibt.
Die Mittel, die uns zur Verfügung stehen, reichen nicht aus.
Wo keine Kita, da weniger Spracherwerb. Das weiß man. Oberbürgermeisterin Steinruck legte am Runden Tisch aber einmal mehr einen Offenbarungseid ab: Die Stadt sei aufgrund der Etatsituation handlungsunfähig. Aus Mainz schaut man inzwischen mit einem differenzierenderen Blick auf Ludwigshafen und will Familiengrundschulzentren schaffen. Bildungsferne Haushalte sollen auf diese Weise enger an die Schule gebunden werden und weniger Kinder durch ein Raster fallen. Entstanden ist im Hemshof in dieser Hinsicht aber bisher nichts. Mächtle weiß nichts von gefassten Beschlüssen. Aber eines weiß sie: „Diese Kinder sind ein Teil unserer gesellschaftlichen Zukunft.“
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