Ludwigshafen. Wie verwahrlost ist der Hemshof? Als im September 2021 die Fraktion Grünes Forum und Piraten im Ludwigshafener Stadtrat eine intensive Debatte darüber anstößt, da ist viel von Müll, Drogen, Gewalt und Vandalismus die Rede - aber wenig von Menschen. Es werde Zeit, dass der Hemshof wieder „unsere Altstadt mit Herz wird“, fordern die Lokalpolitiker damals mit Inbrunst - gerade so, als reiche allein das Aussprechen eines wohlformulierten Wunsches aus, um den Stadtteil über Nacht zu bekehren.
Nicht explizit eingeladen war seinerzeit Barbara Mächtle. Die Schulleiterin der Gräfenauschule, die Luftlinie nur etwa 500 Meter von der Rhein-Galerie entfernt liegt, hätte im Stadtrat nämlich erzählen können, wie man den Grundstein für eine zukünftig noch verwahrlostere Innenstadt legt. Vielleicht, indem man die Bildung von Kindesbeinen an vernachlässigt. Seit 2004 arbeitet Mächtle im Hemshof, und sie hat sich in den vergangenen Wochen einen anderen Weg an die Öffentlichkeit gesucht, um eine Situation an ihrer Schule anzusprechen, die in dieser Art wohl einzigartig in Rheinland-Pfalz und womöglich in ganz Südwestdeutschland ist.
Gegenüber Journalisten berichtete sie, dass sie zuletzt „überrascht und schockiert“ gewesen sei, als sie erfahren habe, dass wohl 40 Schüler ihrer Schule die erste Klasse werden wiederholen müssen. Nun ist es kein Geheimnis geblieben, dass der Hemshof einen außergewöhnlich hohen Anteil an Migranten beheimatet. 98 Prozent der Schüler an der Gräfenauschule bringen einen entsprechenden Hintergrund mit. Dass Kinder plötzlich eine Schulbank drücken, ohne vorher je eine Kita von innen gesehen oder Deutsch gesprochen zu haben, ist eines der Hauptprobleme. Deshalb war es nach den Worten Mächtles auch schon in vorangegangen Jahren so, dass 22 oder 23 Kinder die erste Klasse nicht bewältigen konnten.
Rund 2000 Kita-Plätze fehlen
Um diesen Problemen in adäquater Weise zu begegnen und die Kinder zu aufgeklärten Elementen einer demokratisch organisierten Gesellschaft zu machen, bräuchte es nicht nur nach Ansicht Mächtles vor allem eines - mehr gut ausgebildetes Personal in den nicht ausreichend vorhandenen Kindertagesstätten in der Stadt. Nach Angaben der Verwaltung vom Februar 2023 fehlen rund 2000 Kita-Plätze, auf die Eltern einen gesetzlichen Anspruch haben. Stattdessen kommen Kinder in Mächtles Gräfenauschule, die es bis dato nicht gewohnt sind, auch nur 20 Minuten still auf einem Stuhl zu sitzen. Dass die Eltern selbst oft einen Lebenslauf mitbringen, in dem Schulbildung nicht die oberste Priorität hatte, macht die Sache für die Schulleiterin nicht einfacher. Auf Herkunft oder Nationalität möchte sie die Frage nicht reduzieren. Es gebe insgesamt zu wenig Chancengleichheit, sagt sie. Wütend und frustriert sei sie angesichts der geringen Unterstützung aus den Reihen der Bildungspolitik.
Symbolischer Schrei nach Hilfe
In gewisser Weise erinnert der Hilferuf an jenen, den die Lehrer der Rütli-Hauptschule im Berliner Stadtteil Neukölln im Jahr 2006 zu Papier brachten. Damals wussten sich Lehrer aufgrund von Gewaltexzessen und anderen Delikten nicht mehr anders zu helfen. Nun kann von Gewaltexzessen in der Gräfenauschule keine Rede sein, aber der Umstand, dass 40 Schüler im ersten Schuljahr das Klassenziel nicht erreichen, könnte man wenigstens regional als symbolischen Schrei nach mehr Unterstützung werten.
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Dabei ist sich die Mainzer Landespolitik keiner Schuld bewusst. „Die ergriffenen Maßnahmen und die damit verbundenen Mittel zeigen, dass wir uns der Herausforderungen der Schule in besonderer Weise annehmen“, heißt es auf Anfrage dieser Redaktion. Die Aufsichtsbehörde habe der Gräfenau-Schule heuer 137 Lehrerwochenstunden für zusätzliche Sprachförderung genehmigt, das allein seien bereits rund 5,5 volle Lehrerstellen. Mit dem Programm „Aufholen nach Corona“ summiere sich die Anzahl zusätzlicher Stunden auf insgesamt sieben Stellen. Ein weiteres Projekt stärke Schulleitungen an Brennpunktschulen und unterstütze sie bei der Weiterentwicklung ihrer Schule. „Das sieht auf dem Papier so aus“, sagt Mächtle. In der Realität ersetze sie mit den zusätzliche Kräften kranke Kollegen. Eigentlich seien zwei Lehrkräfte pro Klasse notwendig, um Defizite aufzuholen. Davon sei man weit weg.
Der Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Klaus-Peter Hammer, kritisiert die Landesregierung, die im Pingpong mit den Kommunen den Ausbau der Kita-Plätze nicht genug verfolgt habe. Bei den Eltern der Kinder müsse man Überzeugungsarbeit für die in den vergangenen Jahren gesunkene Bedeutung des Schulbesuchs leisten. Das gelte im Übrigen nicht nur für Kinder von Eltern aus anderen Kulturkreisen.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Bildung ist ein Rohstoff, der keine Lobby hat