Ludwigshafen. Im ersten Lockdown hat Barbara Mächtle drei- bis viermal wöchentlich Hausbesuche bei ihren Schülerinnen und Schülern gemacht. Teilweise, so berichtet sie, seien Kinder einfach verschwunden und man habe kein Lebenszeichen mehr von ihnen vernommen - dabei sei Fernunterricht angesagt gewesen und die Jungen und Mädchen hätten sich Aufgaben in der Schule abholen müssen. Vor Ort habe sich dann herausgestellt, dass die Kinder bis 12 Uhr schlafen und nicht im Entferntesten mit Hausaufgaben beschäftigt sind. „Sie waren verwuschelt und schlaftrunken, so als wären Ferien“, berichtet Mächtle. Vielen sei im Lockdown die Struktur vollkommen abhanden gekommen - auch weil die Eltern oftmals selbst nicht berufstätig seien und wegen der Sprachbarriere keine Hilfe bei den Schulaufgaben leisten könnten.
Sprachbarriere erschwert Arbeit
Barbara Mächtle ist Leiterin der Gräfenauschule im Ludwigshafener Hemshof. 98 Prozent der insgesamt 430 Mädchen und Jungen dort haben einen Migrationshintergrund. Schon ohne eine Pandemie sind die Herausforderungen an der Brennpunktschule enorm. Corona macht alles noch viel schwieriger. Und obwohl das regelmäßige Testen und die Anwendung der Quarantäneregeln viel Aufwand bedeuten, spricht sich die 45-jährige Schulleiterin deutlich für Präsenzunterricht aus. Auch im Angesicht der Omikron-Welle.
Grund dafür sind die Erfahrungen, die die Bildungseinrichtung bei den ersten Schulschließungen gemacht hat, Szenen wie eingangs beschrieben. „Kinder mit Migrationshintergrund werden beim Homeschooling schnell abgehängt, das tut ihnen gar nicht gut“, sagt Mächtle. Dies betreffe sowohl die Lerninhalte als auch das Sozialverhalten. Durch die fehlende tägliche Interaktion würden die Schülerinnen und Schüler unter anderem verlernen, Konflikte friedlich auszutragen.
Gräfenauschule
- Die Grundschule Gräfenau liegt im Hemshof, dem Ludwigshafener Stadtteil mit dem höchsten Ausländeranteil in der Bevölkerung.
- Von 430 Schülerinnen und Schülern haben nach Angaben der Bildungseinrichtung 98 Prozent einen Migrationshintergrund.
- Durch ihren besonderen sozialpädagogischen Förderbedarf gilt die Gräfenauschule als Brennpunktschule. Daneben ist sie eine Schwerpunktschule, die 34 Kinder mit Beeinträchtigungen unterrichtet.
Besonders gravierend seien die Auswirkungen fehlenden Präsenzunterrichts jedoch auf den Bereich Sprache. „Wir haben hier Fälle erlebt, da haben die Kinder nach den Schulschließungen kein Deutsch mehr gesprochen“, berichtet die 45-Jährige. Denn viele Mädchen und Jungen, die in die Gräfenau-Grundschule eingeschult werden, beherrschen noch nicht einmal ein Wort Deutsch, sondern erlernen die Sprache erst im Schulalltag. So habe ein Junge etwa gerade gute Fortschritte gemacht, als die ersten Schulschließungen kamen. „Im Lockdown hat er Deutsch komplett verlernt, weil die Eltern zuhause die Sprache nicht sprechen“, berichtet Mächtle. Das aufzuholen, habe einige Wochen gedauert.
Die Sprachbarriere führt auch zu vielen Missverständnissen. So hätten viele Eltern bei den Hausbesuchen überhaupt nicht gewusst, dass die Kinder im Fernunterricht beschult werden und Aufgaben erledigen sollen. Dieser Aufklärungsbedarf ziehe sich bis heute durch. „In den Winterferien sind einige Familien verreist. Und wir bekommen dann die Anrufe mit den Fragen, welche Quarantäneregeln bei der Einreise aus den jeweiligen Ländern gelten“, sagt die Schulleiterin.
Wegen all dieser Erfahrungen wäre erneuter Fernunterricht für Mächtle ein mittelschweres Desaster. Auch wenn in den kommenden Wochen die Fallzahlen durch Omikron weiter nach oben schnellen werden, wovon Mächtle ausgeht, müsse das Ziel sein, den nicht betroffenen Schülern den Schulbesuch weiterhin zu ermöglichen. Das gelte insbesondere für die 34 Förderschüler, die es an der Schwerpunktschule gebe. „Das sind Kinder mit einer Lern- oder einer geistigen Behinderung. Da ist Homeschooling gar nicht möglich.“
„Lieber drei Stunden als gar nicht“
Der Start nach den Ferien sei nun einigermaßen reibungslos verlaufen. „In den ersten beiden Wochen hatten wir kaum Fälle. Diese Woche haben wir vier positiv getestete Schüler und eine Lehrkraft“, sagt die Rektorin, die befürchtet, dass die Infektionen nun mit etwas Verzögerung kommen. Eine Unterrichtsgestaltung unter diesen Corona-Bedingungen sei zwar schwierig, da Klassen bei Ausfällen nicht auf andere Klassen aufgeteilt werden können. „Aber wir wurschteln uns so durch. Lieber haben wir die Kinder nur drei Stunden hier als gar nicht.“
Was den Fernunterricht angehe, so müsse künftig die technische Ausstattung sowohl der Lehrkräfte als auch der Schüler besser werden. „Bislang steht und fällt da viel mit dem individuellen Engagement der Lehrerinnen und Lehrer“, sagt Mächtle. „Viele haben sich da sehr ins Zeug gelegt und den Kindern sogar Unterrichtsmaterial nach Hause gebracht.“ Das Problem mit der Sprachbarriere bei einer so hohen Quote von Schülern mit ausländischen Wurzeln werde damit aber auch nicht gelöst. Und deshalb ist für Mächtle der Präsenzunterricht alternativlos.
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