Porträt - Nadija Romaniw (82) hat den Krieg in der Ukraine hinter sich gelassen / Ihre Enkel kämpfen dort an der Front

Wie Nadija Romaniw aus einem Pflegeheim in der Ukraine in die Region floh

Von 
Michaela Roßner
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Die 82-jährige Nadija Romaniw (l.) lebt seit zwei Wochen bei ihrer Cousine Maria Melnik. Vom Seniorenheim in der Ukraine flüchtete sie allein hierher. © Michaela Roßner

Heidelberg. „Es kommt mir sehr unwirklich vor, dass ich hier in Heidelberg in einem Café sitze“, sagt Nadija Romaniw. Die 82-Jährige hat noch so viele Bilder des Krieges im Kopf. Ihr Zuhause im Norden der Ukraine hat sie verlassen, ist vor dem Krieg geflüchtet und auf eigene Faust zu ihrer Cousine nach Deutschland gereist. Nun versucht sie hier bei der Organisation von Hilfsgütern zu unterstützen - während zwei Enkelsöhne rund 2000 Kilometer entfernt, in Kiew, ihre Heimat verteidigen.

Das grau-weiße Haar ist zu einem Zopf geflochten und zusammengesteckt. Mit sehr wachen, hellgrünen Augen nimmt die äußerst fitte Seniorin am Gespräch teil. Der olivgrüne Wollpulli greift die Farbe ihrer Augen auf, das Gesicht zeigt kaum Falten. Gerne erzählt Nadija Romaniw ihre Geschichte. Jahrzehnte, zu denen auch einige Schicksalsschläge gehören. Doch die Ukrainerin teilt diese Erinnerungen nicht mit Bitterkeit. Romaniv ist sehr gläubig. „Die Muttergottes gibt mir Schutz“, sagt sie voller Vertrauen.

Keine Fahrer für Hilfstransport

Seit zwei Wochen lebt die Geflüchtete nun in der Rhein-Neckar-Region. An diesem Vormittag begleitet sie ihre Cousine Maria Melnik, bei der sie nun wohnt, zu einer Spendenübergabe. Melnik leitet die Deutsch-Ukrainische Gesellschaft Rhein-Neckar - und befindet sich seit sechs Wochen im absoluten Ausnahmezustand. 450 bis 500 Mails am Tag - Unterstützungsangebote genauso wie Nachfragen - gehen täglich ein. „Wir sind absolut ins kalte Wasser geworfen worden“, erinnert sie sich an die ersten Tage. Der Wille, zu helfen, sei riesig: Mehr als 1000 Tonnen Hilfsgüter haben die Deutsch-Ukrainische Gesellschaft und ihre Unterstützer bereits zusammengetragen und auf 45 Lkw ins Kriegsgebiet transportiert.

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An diesem Vormittag ist eine Spendenübergabe in Heidelberg geplant. Ein Unternehmen will Hilfsgüter übergeben, zehn Kartons. Doch als die Gruppe zum vereinbarten Termin ankommt, gibt es Probleme: Wegen der Corona-Pandemie hatte der Spender keinen Fahrer, um das Material aus einem knapp 100 Kilometer entfernten Depot abholen zu lassen. Melnik und ihr Vereinskollege Gerd Guntermann, der einen Transporter für diesen Tag organisiert hat und die Pakete gleich zu einem Sammelpunkt in Ladenburg fahren wollte, werden auf die kommende Woche vertröstet.

„Wissen Sie“, sagt eine begleitende Ukrainerin zu dem Firmensprecher, „wir sind Ihnen sehr dankbar. Aber unsere Männer stehen in diesem Moment an der Front. Es kommt auf jeden Tag an“, fügt sie ruhig und ohne Verbitterung hinzu.

Nadija Romaniw lässt sich die Erklärungen dezent von ihrer Cousine ins Ukrainische übersetzen. Wie es an der Front aussieht, hat sie am eigenen Leib erfahren. „Wir liefen, gerieten unter Beschuss, warteten, liefen weiter, kamen unter Beschuss“, erinnert sie sich an die ersten Kilometer der Flucht aus dem Nordosten des Landes.

„Ich mache mich auf den Weg“: Mit diesen Worten hat sie in einem der seltenen noch möglichen Telefonate mit der in Deutschland geborenen Verwandten ihren Aufbruch angekündigt. Am 13. März verließ sie das Seniorenheim, in dem sie seit zwei Jahren lebte.

„Ein Sonntag“, weiß die 82-Jährige sehr genau. Mit gut 20 Senioren dort hatte sie die Ankunft der russischen Flugzeuge und Panzer am 24. Februar miterlebt. Auch die Straße vor ihrem Pflegeheim in Dymer, 40 Kilometer nördlich von Kiew und 70 Kilometer südlich von Tschernobyl, wurde abgesperrt.

An einem Sonntag gestartet

„Es waren junge Soldaten, sie sagte uns, dass sie uns nichts tun werden“, berichtet die Seniorin, „wir haben ihnen Wasser gegeben, weil sie keines hatten.“ Trotzdem sei man misstrauisch geblieben: „Einem Russen darf man nicht trauen“, sagt die Seniorin mit überraschender Härte. Als Sechsjährige ist sie mit ihrer Mutter von Stalins Truppen nach Sibirien verschleppt worden - wie rund 500 000 weitere Ukrainer auch. Als junge verheiratete Frau kam sie zurück in die Heimat. 1963 war das.

Nach dem Tod des Mannes erlebte sie den nächsten Schicksalsschlag: Ein technischer Defekt löste einen Brand aus, bei dem ihr Haus und alles, was sie besaß, in Asche aufging. Ihr neues Zuhause wurde das Pflegeheim. Als Anfang März kein Personal mehr dorthin kam - „die sind vermutlich abgefangen worden“ - versorgten Menschen aus dem Dorf die Alten. „Bald gab es keinen Strom mehr und nur noch zeitweise Wasser.“ Aus der Ferne waren immer wieder Detonationen zu hören, Flugzeuge flogen unermüdlich Richtung Hauptstadt. „Es war Zeit zu gehen.“ Auf der Straße traf die Seniorin, die nur eine Tasche bei sich hatte, eine Frau mit Baby, die sie im Auto ein paar Kilometer mitnahm.

Mit Zügen und Bussen kam sie über Warschau und Berlin nach Mannheim. Fast drei Tage war sie unterwegs. „Alleine hätte ich das niemals geschafft“, verweist Romaniw auf viele Helfer, etwa an der polnischen Grenze. Nun ist sie in Freiheit - auch wenn das irreal scheint.

Redaktion Redakteurin Metropolregion/Heidelberg

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