Geschichte

Der vertuschte Diebstahl des kaiserlichen Siegels

Kreisarchivar Jörg Kreutz deckt geheim gehaltene Tat und eine Fälschung in der Ära von Carl Theodor auf

Von 
Peter W. Ragge
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Sehr viele Details weichen ab, sind weniger konturiert: Oben die nachgemachte pfälzer „Goldene Bulle“, unten das Original (Trierer Exemplar) © Kreutz

Ladenburg/Mannheim. Er ist durch Zufall darauf gekommen. Aber damit ist ihm ein regelrechter Coup gelungen. Jörg Kreutz hat einen Diebstahl aufgedeckt, aber nicht irgendeinen, sondern ein richtig spektakuläres, wenn auch sehr altes Delikt: einen Diebstahl im Mannheimer Schloss 1744, also in der Ära von Kurfürst Carl Theodor. Er beweist nun vor allem, dass das Vertuschen der Tat nur mit einer seither geheim gehaltenen Fälschung gelungen ist.

„Einen einzigartigen Kriminalfall“ nennt Landrat Stefan Dallinger die Geschehnisse und freut sich, dass er durch einen seiner Mitarbeiter „vollständig ans Licht gebracht“ werde. Seit 250 Jahren konnte der Diebstahl erfolgreich vertuscht werden. Doch nicht nur das belegt nun Kreutz, Leiter des Kreisarchivs des Rhein-Neckar-Kreises in Ladenburg und auch schon als Autor für den Mannheimer Altertumsverein engagiert. Er weist zudem nach, dass und wie die damaligen Zeitgenossen und nachfolgende Generationen in die Irre geführt worden sind – auf höchsten Befehl des Regenten.

Täter auf unbekannte Art ins Archiv eingedrungen

Es ist der 3. Juni 1774, als drei Archivare (Johann Nikolaus von Stengel, Kaspar Friedrich Günther und Stephan von Stengel) ihrem Chef Meldung machen. Zerknirscht schildern sie auf drei Seiten den „höchstfrefelhafften diebstahl“, der aber offenbar bereits im März passiert sein müsse. 14 Tage vor Ostern sei das Diebesgut noch vorhanden gewesen. Seither müsse es „einem Bösewicht gelungen sein („durch welchen weeg und auf welche arth ist unß unmöglich zu sagen“), in das Archiv im Mannheimer Schloss einzudringen. Sie beteuern „im bewustseyn von unserer sorgfältigkeit“ ihre Unschuld und gestehen, „dass sich das Archiv der Ehre beraubt sieht“. Der materielle Wert des Diebesguts sei indes gering, beruhigen sie.

© Kreutz

Doch der symbolische Wert ist enorm – was die Archivare entweder nicht eingestehen wollen oder nicht begreifen. Entwendet worden sind nämlich „die güldene Bulle Kaissern Karls IV.“ und „drey andere solche Bullen“, ferner ein paar silberne Siegel früherer Kurfürsten. Die Dokumente, die damit versehen gewesen seien, behielten indes ihre Rechtskraft, versichern die Archivare Carl Theodor. Und sie raten ihm, man möge „das Verbrechen, das so abscheulich“ sei, geheim halten, um nicht Nachahmer anzustacheln.

Diesem Rat folgen Carl Theodor und sein Hofstaat nur zu gerne. Dem Regenten ist nämlich die Brisanz des Diebstahls sehr bewusst. Die „Goldene Bulle“ – das Wort steht als Synonym für das wichtigste Dokument des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. 1356 hat Kaiser Karl IV. sie erlassen. Dabei handelt es sich um eine Art Grundgesetz, in dem etwa die Grundsätze der Königswahl festgeschrieben sind. Die Kurfürsten und Geistlichen Oberhäupter, die den König wählen dürfen, verfügen über je ein Exemplar des kostbaren Pergaments mit dem goldenen Siegel des Kaisers. Carl Theodor hat den Rang eines Kurfürsten; er nimmt das Amt für die Dynastie der Wittelsbacher wahr.

Kurz nach der Entdeckung des Diebstahls steht eine Reise von Carl Theodor zu den bayerischen Verwandten an. Auch für sie hat das Dokument eine ganz besondere Bedeutung – denn schließlich regelt die Hausunion der pfälzischen und der bayerischen Linie der Wittelsbacher, dass der jeweils andere Regent erbt, sollte der Verwandte vor ihm sterben. So passiert es: Carl Theodor erbt 1778 den bayerischen Thron.

Keine Einbruchspuren, keine Hinweise

Was wäre das für eine Blamage, sollte kurz vor der Reise der Diebstahl bekannt werden! „Diese Blöße wollte man sich vor den Münchner Vettern nicht eingestehen, handelt es sich doch um eines der wichtigsten repräsentativen Zeugnisse und Symbole des pfälzischen Hauses“, äußert Jörg Kreutz Verständnis. Also ordnet Carl Theodor zwar eine Untersuchung des Vorfalls an, die aber „bey Strafe der Ungnad“ völlig vertraulich zu laufen habe. Brauchbare Hinweise ergeben sich indes nicht– bis auf die Erkenntnisse, dass das kaiserliche Siegel abgeschnitten, andere wertvolle Siegel aus Schubladen entwendet wurden. Einbruchspuren findet man ebenso nicht wie sonstige Hinweise.

Dann haben die Hofbeamten noch eine Idee. Sie lassen Erkundigungen bei Gold-und Silberschmieden in Mannheim sowie in Frankfurt, Speyer und Worms einholen, ob ihnen etwas angeboten worden ist. Das passiert freilich vorsichtig „nur unter gemeineren Ausdrückungen“, denn man will ja nicht verraten, welcher symbolisch wertvolle Schatz da dem kurfürstlichen Hof abhanden gekommen ist.

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Stadtgerichtsassessor und Kriminalreferent Bernhard Wentz muss dem Minister Franz Albert von Oberndorff und damit dem Kurfürsten gegenüber also zugeben, dass die Tätersuche gescheitert ist – das Diebesgut also verschollen bleibt. Auf Wentz soll dann auch der Vorschlag an den Kurfürsten zurückgehen, höchst diskret Ersatz zu beschaffen. Minister von Oberndorff erteilt tatsächlich den „gnädigsten Specialbefehl“ an den kurpfälzischen Münzmeister Anton Schäffer, der während der gesamten Regierungszeit Carl Theodors für das Medaillen- und Münzprogramm künstlerisch verantwortlich zeichnet. Selbst viele andere Regenten, sogar das Kaiserhaus in Wien, schätzen sein Können.

Schäffer wird angewiesen, sich das in der Reichsstadt Frankfurt aufbewahrte, dort als „Touristenattraktion“ ausgestellte Exemplar der besonderen kaiserlichen „Goldenen Bulle“ anzusehen und – möglichst unauffällig – einzuprägen. Er zeichnet es ab, macht sogar einen Abdruck und versichert dem Kurfürsten mit der Reisekostenabrechnung, dass „wan eines dergleichen zu verfertigen gnädigst anverlangt wird“, dass er das „gleichförmig“ liefern könne. Genau diesen Befehl bekommt er sogleich.

Ob und wann er ihn ausführt, ist nicht überliefert – Akten dazu fehlen, wohl bewusst. Aber bekannt ist, dass irgendwann wieder ein goldenes Siegel an jenem Dokument hängt, das im kurfürstlichen Archiv zu Mannheim gelegentlich Gästen gezeigt wird. Es ist sogar überliefert, dass ein Historiker den Zustand des besonderen Exponats nach einer Archivbesichtigung lobt. Er notiert nur, dass die Goldene Bulle „von der seidenen Schnur abgerissen“ sei. Niemand schöpft offenbar Verdacht, „Auf diese Weise wurde die für den Mannheimer Hof so peinliche Angelegenheit, von der nur wenige wussten, elegant geklärt“, so Kreutz. Der Diebstahl sei unaufgeklärt geblieben „und wurde fortan verschwiegen“.

Dokumentenbestand zieht mit um nach München

Lange nach Carl Theodors Umzug von Mannheim nach München wandert auch der Dokumentenbestand in die dortigen Archive. Dort wird gar vermerkt, dass das goldene Siegel wieder an dem Dokument hängt – durch wen oder wann auch immer, das ist nicht festgehalten.

Zwar gibt es 1863 eine Veröffentlichung, die den Diebstahl öffentlich macht. Aber darin wird der Eindruck erweckt, die „Goldene Bulle“ sei wieder aufgetaucht, das in München archivierte also Exemplar echt. „Eine offenkundige Fehlinterpretation“, sagt Kreutz. Er legt sich indes nicht fest, ob da jemand die Ehre des bayerischen Archivs nicht ankratzen wollte, ob es „unkritische Naivität oder fehlendes Wissen“ ist. Jedenfalls äußert er sich überrascht, „dass die Forschung bis heute diesem Aspekt überhaupt kein Interesse mehr geschenkt hat“.

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Doch für ihn ist die „Indizienlage eindeutig“, betont Kreutz. Was das Bayerische Hauptstaatsarchiv als „Goldene Bulle“ betrachte, sei „eine Nachbildung beziehungsweise Fälschung aus dem 18. Jahrhundert“, gefertigt auf Befehl des Kurfürsten.

Darauf gestoßen ist Kreutz „eher zufällig“, wie er sagt, als er im Generallandesarchiv Karlsruhe auf einen vagen Eintrag über „Entwendungen“ aus pfälzischen Archiven stößt. Als er dann liest, dass es um die „Goldene Bulle“ geht, „war meine Neugierde geweckt“. Im Zuge der Berichterstattung über die Auszeichnung der Ausfertigungen der „Goldenen Bulle“ als UNESCO-Weltdokumentenerbe ist er intensiver in das Thema eingestiegen. Mehr als zwei Jahre arbeitete er dann daran, sich digitale Bilder aller kaiserlichen Siegel zu besorgen und sie intensiv zu vergleichen. Und siehe da: Alle erweisen sich als identisch. Nur das pfälzische Exemplar unterscheidet sich an ganz vielen, schlecht gearbeiteten Details von allen anderen Goldsiegeln. Für Kreutz ist damit belegt, dass es sich um eine Nachbildung handelt, und in einem neuen Band der Reihe „Bausteine zur Kreisgeschichte“ belegt er das anhand eines umfangreichen Vergleichs und zahlreicher Fotos.

Redaktion Chefreporter

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