Herr Strigel, als Sportler haben Sie zweimal an Olympischen Spielen teilgenommen, wie haben sich die Sommerspiele seit 2004 verändert?
Daniel Strigel: Es fällt auf, dass immer weniger Sportlerinnen und Sportler im Olympischen Dorf wohnen. Das ist für alle eine sehr traurige Entwicklung.
Warum ist das so?
Strigel: Das IOC hat in den vergangenen Jahren viele neue Disziplinen in das Programm aufgenommen. Das liegt vor allem an dem großen strategischen Ziel der Geschlechterparität. Die Anzahl der Akkreditierungen ist zwar gedeckelt, aber die Anzahl der Personen, die im Olympischen Dorf wohnen sollen, steigt stetig. Pro Sportler wird zudem ein halber Betreuer akkreditiert. Aus diesem Grund wurde damit begonnen, Akkreditierungen weiterzugeben. Bei uns war es noch normal, dass man einige Tage vor seinem Wettkampf ins Olympische Dorf einziehen und nach dem Wettkampf noch einige Tage bleiben durfte.
Sie haben schon darauf hingewiesen, dass sich immer mehr Sportarten bei Olympia präsentieren können. Ist das eine positive Entwicklung?
Strigel: Für alle, die ins olympische Programm kommen, ist das natürlich ein Traum. Um aber alles unterzubringen, müsste man die Spiele noch größer machen, über einen noch längeren Zeitraum austragen. Das klingt wiederum widersinnig. Man will die Spiele aber ja nicht noch größer machen, insofern steckt man in einem Dilemma.
Geht dadurch das olympische Flair verloren?
Strigel: Die Tendenz wird stärker, dass sich Olympische Spiele zunehmend anfühlen wie parallel stattfindende Weltmeisterschaften. Auf diese Entwicklung muss das IOC aufpassen. Olympische Spiele haben für Sportlerinnen und Sportler einen einzigartigen Weltspiele-Charakter. Der wird weniger, dagegen muss etwas unternommen werden.
Gibt es diese Tendenz bei den Winterspielen auch?
Strigel: Nein, die Winterspiele sind der kleine Bruder der Sommerspiele. Da gibt es weniger Kapazitätsprobleme, weil die Disziplinen nicht so stark ausgeweitet werden.
Mit Paris kehren die Sommerspiele auf den alten Kontinent zurück. Ist das eine Chance für die olympische Bewegung?
Strigel: Eine sehr große sogar. Bei aller Kritik am IOC und seinem Präsidenten Thomas Bach lässt sich feststellen, dass diese Entwicklung in seine Amtszeit fällt. Spiele finden nun wieder in Paris, Los Angeles und Brisbane statt, das ist ja auch wiederum Thomas Bach. Olympia bleibt eine Riesenveranstaltung. Ich habe gehört, bei der Eröffnungsfeier am Freitag soll die größte TV-Produktion umgesetzt werden, die jemals gemacht wurde. Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Etwas kleiner und weniger gigantisch scheinen mir die Spiele in Paris dennoch konzipiert worden zu sein.
Wird sich diese Tendenz eventuell fortsetzen?
Strigel: Das hoffe ich. Los Angeles hat das Erbe, dass es im Grunde 1984 die ersten kommerziell ausgerichteten und mit viel Eventcharakter veranstalteten Spiele waren. Man muss sehen, dass Los Angeles die Spiele nach 1980 Moskau und 1976 Montréal waren. Das waren ganz andere Zeiten. Durch Juan Antonio Samaranch, der die IOC-Präsidentschaft übernahm, haben Los Angeles, Seoul und vor allem Barcelona die Ära des Gigantismus eingeleitet.
Worauf freuen Sie sich am meisten in den nächsten zweieinhalb Wochen?
Strigel: Ich bin gespannt, wie sich unsere Athleten vom Team Paris der Metropolregion Rhein-Neckar, deren Laufbahn ich teilweise seit mehr als zehn Jahren begleite, schlagen werden. Ob sie sich ihren Traum erfüllen und eine Bestleistung aufstellen werden. Ich freue mich darauf, wenn diese Spannung aufgelöst ist.
Was ist das Ziel des Team Paris?
Strigel: Wir wollen junge Menschen dabei unterstützen, ihre sportliche Hochbegabung zu voller Potenzialentfaltung zu bringen. Wir sind eine Förderinstitution.
Wie sieht die Unterstützung konkret aus?
Strigel: Zum einen ist sie ideell. Wir versuchen, den olympischen Athletinnen und Athleten, die weder Öffentlichkeit noch große Förderung genießen, das Gefühl zu vermitteln, dass sie nicht allein sind. Sie sollen sich auch untereinander kennenlernen und einen Teamgeist entfachen.
Infos zu Daniel Strigel
Daniel Strigel wurde am 13. Februar 1975 in Mannheim geboren.
Der ehemalige Weltklasse-Fechter startete für den FC Tauberbischofsheim und nahm an den Olympischen Spielen 2000 und 2004 teil.
Sein größter internationaler Erfolg war Olympia-Bronze 2004 mit dem Team in Athen.
Seit 2010 leitet Strigel den Olympiastützpunkt Rhein-Neckar in Heidelberg.
Welche Kriterien muss man erfüllen, um in das Team zu kommen?
Strigel: Es ist relativ schwer, in das Team zu kommen. Entweder muss man bei einer WM unter den Top Acht oder bei einer EM unter den Top Vier gelandet sein. Das ist schon sehr, sehr streng. Dann ist man individuell antragsberechtigt auf vielfältige Unterstützungsleistungen. Sei es der Zuschuss zur Miete oder zu Ernährungskosten. Das klingt immer ein bisschen komisch, aber wenn ich 4000 Kalorien am Tag zu mir nehmen und auf die Qualität achten muss, ist das ein Kostenfaktor. Es geht auch um Zuschüsse zu Trainingslagern, Wettkampfreisen und Sparringspartnern. Es gibt die öffentliche Förderung, es gibt die Sportfördergruppe der Bundeswehr, es gibt die Stiftung Deutsche Sporthilfe. Naturgemäß lassen solche großen Tanker Lücken. Der große Vorteil des Team Paris ist, dass wir mit einem relativ bescheidenden Budget große Hebel haben.
Gibt es bei der Förderung noch einen weiteren Punkt?
Strigel: Wir gehen davon aus, dass jemand, der sich für Olympische Spiele qualifiziert, einen erheblichen finanziellen Mehraufwand hat. Der Sport kostet nicht nur Zeit und Kraft, sondern auch Geld. Wir unterstützen mit einer finanziellen Anerkennung in Höhe von 5000 Euro für die Olympia-Qualifikation. Wir sind keine Medaillenzähler und erliegen nicht der Illusion, dass man Ergebnisse produzieren kann.
Zuletzt hat sich Tennisikone Boris Becker über den geringer werdenden Stellenwert des Sports in der deutschen Gesellschaft besorgt gezeigt. Teilen Sie die Einschätzung?
Strigel: Man muss der Realität ins Auge blicken. Die Gesellschaft ist im Jahr 2024 viel ausdifferenzierter als die im Jahr 1984. Wir haben Privatfernsehen und Internet. Ein einziges Thema kann in unserer Gesellschaft gar nicht mehr die extreme Aufmerksamkeit erhalten wie vor 40 Jahren. Dieses Phänomen betrifft nicht nur den olympischen Leistungssport. Er genießt aber immer noch eine sehr große Anerkennung. Wenn ich auf einer Party sage, dass ich Olympiastützpunktleiter bin, hat mir noch nie jemand geantwortet: „Davon habe ich noch nie etwas gehört, was ist denn Olympia?“
Stimmt diese These: Da der Sport nicht mehr den Stellenwert hat, sind auch die Ergebnisse schlechter als früher?
Strigel: Tendenziell sind wir eine alternde und unbeweglichere Gesellschaft. Eine der ersten Sachen, die in der Schule gestrichen werden, ist der Sportunterricht. Das Thema Bewegungsförderung und Lust am Sport scheint mir wirklich unbedeutender geworden zu sein. Hier liegt ein wichtiger Ansatzpunkt. Mit genug politischem Gestaltungswillen könnte man das angehen.
Und im Leistungssport?
Strigel: Trainer sind letztlich auch Pädagogen. Seit der Wiedervereinigung haben wir es nicht in den Griff bekommen, den Trainerberuf so aufzustellen, dass hochbegabte junge Menschen individuell perfekt ausgebildet werden. Boris Becker hat in Leimen auch erst einmal Günther Bosch gebraucht.
Was wäre Ihr erstes Projekt, wenn Sie IOC-Präsident wären?
Strigel: Ich würde in der Mitgliederversammlung des IOC einbringen, dass die Ausschüttung der IOC-Einnahmen nicht nur an Weltverbände und Nationale Olympische Komitees geht, sondern auch direkt an die vielen Trainingsgruppen weltweit, ohne die es die Spiele gar nicht gäbe. In diesem Moment würde mich die Mitgliederversammlung aber schon wieder abwählen.
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