Heidelberg. Die Bibliothek der Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte in Heidelberg - ein historischer Ort. Denn sie befindet sich im Geburtshaus des ersten demokratisch gewählten deutschen Staatsoberhaupts. Andrea Nahles ist hier zu Besuch - ein passender Ort für ein Interview zu den Parallelen zwischen der Weimarer Republik und heute, den Gefährdungen unserer Demokratie und zum Ausstieg der ehemaligen SPD-Vorsitzenden aus der aktiven Politik.
Frau Nahles, wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Friedrich Ebert beschreiben?
Andrea Nahles: Anfangs erschien mir diese Figur ziemlich blass. Denn die Vermittlung seiner Person in der Schule war ziemlich mangelhaft. Was man wusste, war: Er hat den Kaiser abgelöst, den ganzen Salat vor die Füße gekriegt, so würde ich das mal beschreiben, dann natürlich auch sein früher Tod. Doch seine Rolle als Stützpfeiler der Weimarer Demokratie wurde überhaupt nicht klar.
Hat sich das bei Ihnen geändert?
Nahles: Ja. Vieles habe ich mir erst später erschlossen, als ich gemerkt habe, dass die Weimarer Republik ein sehr, sehr interessantes Laboratorium ist für die Frage, wie stabil sind Demokratien. Und erst da habe ich eigentlich, da war ich schon 30, gemerkt: Wow, was hat der für einen Job gehabt! Und was er für eine wertvolle Rolle gespielt hat.
Sie waren ja mal Juso-Vorsitzende, und die Jusos waren ja vor allem in den 1970er Jahren keine Ebert-Fans, haben ihn als „Rechten“ abgetan. Hat sich das geändert?
Nahles: Sorry, ich bin 1970 geboren! Ich wusste nicht, dass die Jusos so gegen ihn waren. Ich meine: Wenn man die Umstände, unter den Leute Politik machen, ausblendet, dann kommt man nicht immer zu gerechten Urteilen. Und ich denke, man muss gerade bei diesem Thema den Kontext sehen. Dann kann man im Nachhinein immer noch sagen: Es wäre besser gewesen, es hätte Alternativen gegeben. Aber man muss sich damit beschäftigen. Daher ist die hiesige Ausstellung auch so wichtig.
Zur Person
- Geboren wird Andrea Nahles 1970 in Mendig bei Koblenz. Mit 18 Jahren tritt sie der SPD bei.
- Innerhalb der Partei steigt sie auf, wird zunächst Bundesvorsitzende der Jusos, dann SPD-Generalsekretärin.
- 2013 bis 2017 ist sie im Kabinett Merkel Arbeitsministerin; in ihrer Amtszeit erfolgt die Einführung des Mindestlohns.
- 2017 wird sie Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, 2018 zusätzlich Parteivorsitzende. Nach schlechtem Europawahl-Ergebnis tritt sie 2019 zurück.
- Seit 1. August 2022 ist sie Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit.
Was haben Sie hier gelernt?
Nahles: Was ich mitgenommen habe, als ich in den 2000er Jahren das erste Mal die Ausstellung besucht habe, war, dass es schon damals eine erhebliche Verrohung im politischen Umgang und in der Sprache gab. Das wusste ich vorher nicht. Friedrich Ebert hat 200 Verleumdungsklagen anstrengen müssen. Natürlich gab es zu seiner Zeit kein Internet, aber es gab die Presse, Karikaturen. Das ist durchaus erschreckend aktuell.
Ist Olaf Scholz der Friedrich Ebert des 21. Jahrhunderts, weil er durch die Umstände gezwungen ist, harte Realpolitik zu betreiben?
Nahles: Wir haben sicher krisenhafte Zeiten, aber mit Weimar würde ich dies keinesfalls vergleichen. Dennoch gibt es einige Herausforderungen, vor denen die aktuelle Regierung steht. Kaum hatte sie ihre Schreibtische bezogen, da war der Krieg in der Ukraine ausgebrochen. Das ist schon eine neue Bewährungsphase für die Demokratie in Deutschland und auch natürlich für diese Regierung in der historisch einmaligen Konstellation einer Ampelkoalition.
Gibt es weitere Parallelen?
Nahles: Was für Weimar typisch war, war der Angriff von links und rechts. Auch heute haben wir die Rechten, das wissen wir alles, das wird oft diskutiert. Was ich aber auch sehe: Ich sehe mit Sorgen die Ausrufung der „letzten Generation“, diese Untergangsrhetorik - hm: Das ist auch nicht gerade demokratieförderlich.
Wie meinen Sie das konkret?
Nahles: Es kann nicht sein, dass man sagt: Wir können bei allem Kompromisse machen, nur nicht bei meinem zentralen Thema. Ich sehe die Klimafrage durchaus als eine existenzielle Frage unseres Planeten. Trotzdem muss es uns - gerade in Europa - um einen demokratischen Weg gehen, eine klimagerechte Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik umzusetzen.
Politisch ist ja derzeit eine sehr spannende Zeit. Bedauern Sie es, jetzt nicht mehr selbst ganz vorne aktiv mitmischen können?
Nahles: Nein. Es ist abgeschlossen für mich. Ich habe ein neues Kapitel aufgeschlagen. Und ich bin nicht der Typ, der mehr durch den Rückspiegel als durch die Frontscheibe guckt.