Speyer. Aus der Vergangenheit lernen: Die pfälzischen Städte Landau, Neustadt, Frankenthal und Ludwigshafen haben in umfangreichen Publikationen ihre eigene NS-Geschichte schon aufgearbeitet. Jetzt hat auch Speyer nachgezogen: Der lange erwartete Sammelband mit neueren Forschungen über „Speyer 1933-1945. Die Domstadt im Nationalsozialismus“ wurde zu Beginn dieser Woche im Historischen Rathaus vorgestellt. Mit 756 Seiten haben die beiden Herausgeberinnen Angela Borgstedt, Geschichtsprofessorin an der Universität Mannheim, und Christiane Pfanz-Sponagel, Leiterin des Speyerer Stadtarchivs, ein stattliches Werk vorgelegt, an dem insgesamt 42 Autorinnen und Autoren mitgewirkt haben.
Das Buch ist nicht als Ergebnis eines wissenschaftlichen Forschungsprojektes zu werten, wie Angela Borgstedt bei dessen Vorstellung in ihrer Einleitung betont, sondern resultiert aus einer von der Stadt geförderten Kooperation des Stadtarchivs Speyer mit dem Historischen Institut der Universität Mannheim. Bereits 2017 beschloss der Speyerer Rat, die NS-Geschichte der eigenen Stadt aufarbeiten zu lassen und hat dafür 39 000 Euro zur Verfügung gestellt. Die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen beim Zugang von Bibliotheken und Archiven sowie die Vielzahl der angefragten und beteiligten Autoren haben letztendlich zu dieser langen Vorlaufzeit geführt.
Vielfältige Darstellung über die Vergangenheit in Speyer
Der nun vorliegende Band überzeugt allein durch die Breite und Vielfalt der gewählten Darstellung: Sechs inhaltliche Schwerpunkte thematisieren den Aufstieg der NS-Bewegung in Speyer, die „Machtergreifung“, die „Volksgemeinschaft“, die Ausgrenzung und Verfolgung bestimmter Bevölkerungsgruppen, den „Widerstand“, aber auch die Entnazifizierung und die bisherige Aufarbeitung des Nationalsozialismus.
35 Beiträge befassen sich ausführlich mit einzelnen Aspekten der NS-Herrschaft wie beispielsweise dem Kriegsalltag oder mit der Judenverfolgung. In 23 kürzeren Schlaglichtern werden vor allem Einzelpersonen beleuchtet. Darunter auch politisch Verfolgte, Kulturschaffende oder Widerstandskämpfer. Die Texte werden durch rund 120 teilweise unveröffentlichte Bilder aus Archivbeständen ergänzt und somit gut begleitet.
Gemessen an den Wahlergebnissen vor 1933 „war Speyer keine NSDAP-Hochburg. Gleichwohl vollzog sich der politische Machtwechsel am 10. März 1933, der durch keine Kommunalwahl legitimiert war und mit der Festnahme sozialdemokratischer und kommunistischer Stadträte einherging, weitgehend geräuschlos“, heißt es in der Einführung von Herausgeberin Angela Borgstedt, Professorin für Zeitgeschichte an der Universität Mannheim und Geschäftsführerin der Forschungsstelle Widerstand gegen den Nationalsozialismus im deutschen Südwesten.
War es eine Selbstgleichschaltung?
Zahlreiche Beiträge kreisen um die Frage, wie und warum es in Speyer trotz starker Milieus im katholischen Lager und in der Arbeiterschaft ohne große Widerstände so schnell und geräuschlos zu einer Machtauslieferung an die Nationalsozialisten kam. War es eine „feindliche Übernahme durch die Nazis“ oder die „Selbstgleichschaltung der damaligen städtischen Eliten“? Die zentrale Frage lautet: Was machte die Menschen in Speyer so anfällig für die von den Nazis propagierte „Volksgemeinschaft“?
Die NS-Geschichte ist mittlerweile im nationalen Zusammenhang gut erforscht. Die Stärke des Sammelbandes liegt darin, den Fokus aller Beiträge und die Schilderung von Einzelschicksalen präzise auf die Geschehnisse vor Ort auszurichten. „Lokalgeschichte ist Geschichte im Reagenzglas“, sagt Borgstedt.
Beiträge wie das Schlaglicht von Michael Lauter zur Lebensgeschichte des Jakob Kaiser, der als dunkelhäutiger „Rheinland-Bastard“ von den Nazis zwangssterilisiert wurde (dazu gibt es übrigens auch ein spannendes eigenes Buch), beleuchten ein bisher vergessenes Thema und machen deutlich, mit welcher Brutalität und Unmenschlichkeit das Regime vor Ort nicht nur die Juden, sondern auch andere Bevölkerungsgruppen aussonderte und verfolgte. Auch zur wirtschaftlichen Situation der Domstadt in der Weimarer Republik und in der Nazizeit kann die Publikation erhellende neue Erkenntnisse beisteuern.
Historische Figuren aus Speyer spielen wesentliche Rolle im Werk
Das Buch ist mit Spannung erwartet worden, weil darin auch die Rolle der Speyerer Ehrenbürgerin Luise Herklotz (SPD) als Mitarbeiterin von NS-Zeitungen und im KZ Dachau thematisiert wird. Darüber hinaus enthält der Sammelband kurze Schlaglichter auf möglicherweise belastete Personen, nach denen in Speyer Straßen benannt sind. Der damalige Oberbürgermeister Karl Leiling oder Museumsdirektor Friedrich Sprater zählen dazu. Der Autor des Schlaglichtes über Karl Leiling sieht seinen Beitrag jedoch nur als Ausgangspunkt für weitere umfangreiche Archivrecherchen und Analysen, um die politische und gesellschaftliche Verantwortung des Oberbürgermeisters in der NS-Zeit noch umfänglicher zu bewerten. Eine ebenfalls vom Stadtrat eingesetzte Historiker-Kommission zum möglichen Umbenennungsbe darf von Speyerer Straßennamen hat den Faden bereits aufgenommen.
Für Oberbürgermeisterin Stefanie Seiler und Bürgermeisterin Monika Kabs ist der Sammelband der Beginn einer vertiefenden Diskussion über einzelne Aspekte, die im Buch thematisiert werden. Beide zogen bei der Vorstellung des Buches Parallelen zur aktuellen Diskussion über die Verrohung der politischen Diskussion, den Aufstieg der AfD und neuerliche rechtsnationale Tendenzen.
Politische Bildung stärken
Es sei heute deutlich schwieriger geworden, sachlich und störungsfrei über bestimmte Themen zu reden, sagt auch Borgstedt. „Faktenleugner werden wir mit dieser Publikation nicht überzeugen können.“ Ansetzen sollte man am besten mit einer besseren politischen Bildung bei jungen Menschen, sagt die Professorin aus Mannheim, um demokratisches Gedankengut wieder zu stärken und Fehlentwicklungen zu vermeiden, am besten mit Beispielen aus der eigenen Stadt und dem eigenen Umfeld. Dazu bietet der Sammelband reichlich Material.
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