Speyer. Fast auf den Tag genau ein Jahr ist es her, da trat der Speyerer Bischof Karl-Heinz Wiesemann mit einer Botschaft in die Öffentlichkeit, die das Bistum in seinen Grundfesten erschütterte. Die Nachricht, dass sich mit dem früheren Generalvikar Rudolf Motzenbäcker (im Jahr 1998 verstorben) ein hochrangiger Geistlicher während der 1960er und 1970er offenbar über Jahre sexuell an jungen Menschen aus einem Speyerer Kinderheim vergangen hatte, löste deutschlandweit Entsetzen aus. Gemeinsame Recherchen von ARD und „Mannheimer Morgen“ zeigten anschließend in einer 45-minütigen Reportage („In Gottes Namen“) Hintergründe über mutmaßliche Täter und Opfer auf. Fast zwei Dutzend weitere Betroffene meldeten sich bei den Missbrauchsbeauftragten in Speyer. Im April gründete sich ein Betroffenenbeirat, der sich nicht nur, aber auch mit den von Wiesemann vorgetragenen Horrornachrichten vom 10. Dezember 2020 auseinandersetzen soll.
„Unverzichtbare Rolle“
Nun haben Beiratsvorsitzender Bernd Held und der Bischof eine gemeinsam erarbeitete Vereinbarung unterzeichnet, in der die Ziele, die Aufgaben und die Arbeitsweise des Betroffenenbeirats geregelt sind. Ziel des Gremiums, das unabhängig arbeiten soll, sei es, die Opfer selbst an der Aufarbeitung der Geschehnisse zu beteiligen. Durch diesen Prozess soll Prävention innerhalb kirchlicher Strukturen verbessert werden. Den Vereinbarungen zufolge begleiten die Betroffenen die Arbeit des Bistums als Expertengremium. Sie setzen sich für die Belange von Menschen ein, die von Mitarbeitenden des Bistums in irgendeiner Weise missbraucht worden sind. Zudem sollen die Betroffenen durch den Beirat eine Stimme in der Öffentlichkeit bekommen.
Der Beirat besteht aus neun Mitgliedern, die durch den Bischof berufen werden. Mitglieder des Betroffenenbeirats wirken in der Unabhängigen Aufarbeitungskommission und im Beraterstab des Bistums zum Thema Missbrauch und Prävention mit. Die Vereinbarung sieht vor, dass die Amtszeit des Betroffenenbeirats ein Jahr nach der Veröffentlichung des Abschlussberichts der unabhängigen Aufarbeitungskommission endet. Zu diesem Zeitpunkt gibt der Beirat dem Bischof eine Empfehlung über eine mögliche Fortführung seiner Aufgaben. Wiesemann sieht die Rolle des Beirats indessen als unverzichtbar. „Wir wollen lernen, den Missbrauch aus der Perspektive der Betroffenen zu sehen“, sagte er anlässlich der Unterzeichnung des Papiers in Speyer.
Der Beiratsvorsitzende Bernd Held äußerte nach der Unterschrift, dass die Vereinbarung einen verlässlichen Rahmen für die Arbeit des Betroffenenbeirats schaffe. Gefragt hatte man sich beispielsweise, welche Kompetenzen und Rechte dem Beirat eingeräumt werden können, wenn es etwa um Belange des Datenschutzes geht.
„Unser Ziel ist es, Hinweise auf Tatverdächtige und Tatorte zu geben, die Aufarbeitung kritisch zu begleiten sowie Vorschläge für eine Verbesserung der Präventionsmaßnahmen zu geben“, so Bernd Held. Es sei gut, in dem Gremium personell sehr gut aufgestellt zu sein und auf diese Weise durch eigene Erfahrungen verschiedene Tatorte betrachten zu können.
Taten juristisch verjährt
Generalvikar Andreas Sturm war mit seiner Organisation nach Bekanntwerden der Vorwürfe gegen Rudolf Motzenbäcker hart ins Gericht gegangen: Die Katholische Kirche könne einpacken, wenn sie nicht schonungslos aufkläre, äußerte er in einem Gespräch mit dieser Redaktion im Februar dieses Jahres. Anlass waren die Vorwürfe eines Betroffenen, der heute in Südhessen lebt. Er beschuldigt den verstorbenen Generalvikar Rudolf Motzenbäcker, ihn hundertfach vergewaltigt zu haben. Dies war Bischof Karl-Heinz Wiesemann über einen längeren Zeitraum bekannt. An die Öffentlichkeit ging er erst, nachdem ein Urteil des Sozialgerichts in Darmstadt die Runde machte. Dort ging es um einen Anspruch des früheren Speyerer Heimkindes auf Opferentschädigung. Die Richterin entschied auf Basis psychologischer Gutachten, dass die Schilderungen des heute 64-jährigen Mannes glaubwürdig sind. Neben dem Generalvikar beschuldigt der Mann auch Ordensfrauen der Niederbronner Schwestern, die Verbrechen des Generalvikars mitinitiiert zu haben, indem sie ihn dem Geistlichen zuführten. Beweisen konnte er das bisher nicht. Für die Staatsanwaltschaft sind die Taten verjährt.
Sturm hofft auf eine gute Zusammenarbeit mit dem Betroffenenbeirat: „Wir wollen gemeinsam am Ziel einer Kirche arbeiten, die Kinder, Jugendliche und schutzbedürftige Erwachsene wirksam vor Gewalt und Missbrauch jeder Art schützt.“
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