Ludwigshafen. Die Firmenchronik verrät dazu nichts, gar nichts. Für das Jahr 1924 heißt es da nur, dass bei Versuchen zur Optimierung der Synthesegasherstellung das Prinzip der „Wirbelschicht“ entdeckt wird. Doch etwas macht viel, viel mehr Wirbel. Vor hundert Jahren, am 6. März 1924, werden bei Auseinandersetzungen vor dem Werkstor der BASF Ludwigshafen zwei Arbeiter erschossen.
Es ist eine aufgeheizte Zeit damals in der Weimarer Republik. 1923 haben die Sieger des Ersten Weltkrieges das Ruhrgebiet besetzt, weil Deutschland mit der Wiedergutmachung in Rückstand sei. Die Inflation wütet. Ständig gibt es gewaltsame Zusammenstöße zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten.
Die Wirtschaftslage spitzt sich so zu, dass die Arbeitgeber etwas rückgängig machen wollen, was - neben dem Frauenwahlrecht - als große Errungenschaft der Weimarer Republik gilt: der Achtstundentag. Bis und im Ersten Weltkrieg sind tägliche Arbeitszeiten von elf bis 18 Stunden nicht ungewöhnlich. Dabei hat schon 1897 der SPD-Reichstagsabgeordnete Heinrich Peus formuliert: „Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Schlaf, acht Stunden Muße, das sei unsere Parole, die wir mit mächtiger Stimme herausschreien wollen.“ Realität wird das aber erst am 15. November 1918, also noch vor Annahme der Weimarer Verfassung 1919.
Nach dem Ende der Monarchie und der Abdankung des deutschen Kaisers im Zuge der Novemberrevolution fürchten die Arbeitgeber nämlich, dass ihnen - nach russischem Vorbild - Enteignung und eine sozialistische Räterepublik droht.
Historiker: „BASF war Vorreiter bei dem Versuch, den Achtstundentag zurückzudrehen“
Am 15. November 1918 unterschreiben daher Gewerkschaftsführer Carl Legien und der Industrielle Hugo Stinnes stellvertretend für die Arbeitgeber einen Vertrag. Darin bekennen sich die Gewerkschaften zum freien Unternehmertum, die Arbeitgeber akzeptieren die Gewerkschaften als gleichberechtigte Tarifpartner. Und verabredet wird der Achtstundentag - bei vollem Lohnausgleich. „Vivat, hoch die neue Zeit./Arbeitszeit acht Stunden/Auch der Präsident ist an die Zeit gebunden“, reimen die Arbeiter, denn der Staat schreibt das in der Arbeitszeitverordnung fest.
Aber diese Einigkeit hält nicht lange. Die Arbeitgeber drängen bald auf eine Lockerung, verweisen auf die Wirtschaftslage. Die Regierung lenkt ein und ermöglicht mit einer neuen Verordnung vom Dezember 1923 Mehrarbeit. „Bis zu 11 Stunden pro Tag sind möglich,“ heißt es da.
„Die BASF war Vorreiter bei dem Versuch, den Achtstundentag zurückzudrehen“, weiß Klaus-Peter Becker vom Stadtarchiv Ludwigshafen: „Die wollten das für ihre ganze Branche durchdrücken,“ nämlich zumindest einen Neunstundentag. Anfang März 1924 schaukelt sich das Thema hoch. „Durch die BASF war Ludwigshafen Herzstück der Arbeiterbewegung in der Pfalz, da gehörten Arbeitskämpfe dazu“, so Becker, „doch was dann passierte, ist absolut singulär in der Firmengeschichte und der Geschichte der Arbeiterbewegung“, betont der Historiker.
Am 3. März gehen rund 800 der damaligen BASF-Arbeiter, ungeachtet der angeordneten Mehrarbeit, nach acht Stunden um 16 Uhr einfach nach Hause. Am Tag darauf sind es mit über 12 000 schon ein Großteil der BASF-Arbeiter. Am 5. März lassen die Gewerkschaften nur noch einen Notdienst zu, auch wenn die Fabrikleitung das als Arbeitsverweigerung kritisiert. Als Streikposten selbst die Mitarbeiter für den Notbetrieb behindern, droht die Polizei mit Schusswaffengebrauch.
Am 6. März reagiert die BASF morgens um 6 Uhr mit Aussperrung. Sie kündigt der kompletten Belegschaft mit Ausnahme von Notdienst und Angestellten. Die Arbeiter sind empört, wollen die - nicht ausgesperrten - Angestellten am Betreten der Firma hindern.
So entsteht eine Straßenschlacht vor dem Tor 1, Arbeiter kämpfen mit Stangen, werfen mit Steinen. 30 Polizisten mit Säbeln schützen das Werk, zwölf verfügen über Gewehre und plötzlich passiert es - sie schießen in die Menge. Die Fabrikarbeiter Richard Laubersheimer und Michael Findt sterben. Die Zahl der Verletzten ist bis heute unklar. Es sollen Dutzende gewesen sein.
Zwei Monate Aussperrung
Erst am 9. Mai 1924 hebt die BASF die Aussperrung auf. So lange bekommen die Arbeiter Geld von der Kommunistischen Internationalen, damit sie überleben. Wer wieder arbeiten will, muss sich per Unterschrift auf den Neunstundentag einlassen. „Von 15 000 Beschäftigten werden nur 13 000 weiterbeschäftigt, die BASF baut auf diese Weise Stellen ab“, sagt Becker.
26 Arbeiter, die als Anstifter gelten, werden angeklagt und von Gerichten zu erheblichen Gefängnisstrafen verurteilt. „Über die Schüsse der Polizisten gibt es keine Debatte“, sagt Becker verwundert. Danach habe es nie mehr Streiks, nie mehr eine Aussperrung bei der BASF gegeben. Allerdings habe die Firma das Thema lange totgeschwiegen, Fotos der Auseinandersetzungen gibt es laut Becker entweder nicht oder sie wurden nicht aufbewahrt.
„Für die BASF war dieser Teil der Geschichte nie Thema“, bedauert Becker. Erst in jüngster Zeit habe sich die Einstellung zu den Vorkommnissen geändert. Seinen Vortrag, den Becker unter dem Titel „Hoffen und Handeln: Der Kampf um den 8-Stundentag“ über den Streik 1924 am Jahrestag, am 6. März 2024 um 18.30 Uhr in der Volkshochschule Ludwigshafen im Bürgerhof hält, darf er zu einem späteren Zeitpunkt auch bei der BASF und vor den Senioren der Gewerkschaft halten. „Neuerdings gibt es da eine gewisse Offenheit“, lobt der Historiker. Ebenso am 6. März um 19 Uhr veranstaltet die Ortsgruppe der Naturfreunde einen Vortrag und szenische Lesung von André Neu im Nukleus (Bismarckstraße 75) zum Thema.
Der Neunstundentag gilt ab 1924 bis zum Zweiten Weltkrieg, dann muss für die Rüstung teils noch länger geschuftet werden. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg 1946 führt der Alliierte Kontrollrat den Achtstundentag wieder ein - allerdings von Montag bis Samstag. Inzwischen steht der Achtstundentag im Arbeitszeitgesetz.
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