Speyer. Fassungslosigkeit, Ungläubigkeit, Hilflosigkeit - wer die gegenwärtige Gemütslage unter den heute weit über 80 Jahre alten Nonnen zusammenfassen möchte - kommt an diesen drei Begriffen nicht vorbei. Mehr als 50 Jahre ist es her, dass die Frauen aus dem Orden der Niederbronner Schwestern im Speyerer Kinderheim Engelsgasse Dienst getan haben. Jenes Kinderheim, in dem nach Darstellung eines früheren Heimkinds und Missbrauchsopfers Zuhälterei und Sexpartys an der Tagesordnung gewesen sein sollen.
„Die Hölle in der Engelsgasse“ titelte diese Redaktion im Dezember, nachdem der Speyerer Bischof Karl-Heinz Wiesemann den Namen eines hochrangigen Geistlichen genannt hatte, der sich in nicht nur einem Fall an Kindern und Jugendlichen aus dem Heim vergangen haben soll. Was seither an Medienfragen auf die Kongregation der Schwestern vom Göttlichen Erlöser (Niederbronner Schwestern) einprasselt, die in Speyer nur noch in einem Krankenhaus präsent sind, hat man dort in dieser Vehemenz auch noch nicht erlebt. Die junge Provinzoberin Barbara Geißinger ist am Nürnberger Zentralstandort erst kurze Zeit im Amt und lernt gerade vor allem Krisenmanagement.
Was war da los im Kinderheim?
Was ging da vor in diesem Kinderheim der 60er und 70er Jahre, in dem einige Dutzend Schwestern zusammengearbeitet haben? Das ist die Frage, die in diesen Wochen Journalisten aus der ganzen Republik stellen. Die Vorgänge in Köln und Speyer bestimmen nicht nur in den katholischen Netzwerken die Schlagzeilen.
Gab es diese Systematik des Missbrauchs in Speyer wirklich, die den Prälaten Rudolf Motzenbäcker regelmäßig beim 200 Meter entfernten Kinderheim anfragen ließ, ob eine Schwester ihm nicht heute wieder einen Jungen quer über den Domplatz schicken könne. So jedenfalls beschreibt es Konrad O. (Name von der Redaktion geändert) - der Mann, der seit 2010 hart darum kämpft, als Missbrauchsopfer vom Schwestern-Orden und vom Bistum Speyer anerkannt zu werden. 2020 erfährt er erstmals Genugtuung. Ihm wird geglaubt.
Anfang Januar legte Konrad O. dieser Redaktion schließlich auch Dokumente vor, die vermeintlich beweisen sollten, wie die Struktur des Missbrauchs war in den Jahren seines Aufenthalts im Kinderheim zwischen 1963 und 1972. Tabellarisch aufgeführt sind auf dieser Schwarzweiß-Kopie Kindernamen, Geldbeträge und Datumsangaben. Zum Beispiel - so die Darstellung von Konrad O. - hätten die Schwestern hier akribisch dokumentiert, dass es etwa am 16. Januar 1965 eine Feier beim Prälaten gegeben haben soll. Konrad O. hat auf diesem Papier, das er heute „Kassenbuch“ nennt, seinen Namen entdeckt und den Betrag 500 D-Mark. Für ihn ein Indiz, dass die Nonnen an diesem Tag Geld eingestrichen haben. Und zwar dafür, dass er von Rudolf Motzenbäcker anal und oral missbraucht wurde. Wer Konrad O. zuhört, der hört blanken Hass auf die Niederbronner Schwestern.
„Beweisstück“ am PC nachgebaut
Um der Wahrheit näher zu kommen, wurde die Ordenskongregation von dieser Redaktion mit dem vermeintlichen „Kassenbuch“ konfrontiert. Konrad O. gibt an, das Dokument im Dezember 2020 anonym in seinem Briefkasten im Kreis Bergstraße vorgefunden zu haben.
Jörg Hofmann, ein Heidelberger Rechtsanwalt, der den Orden in Pressefragen berät und vertritt, hat das Dokument nach der Zusendung im Februar durch das Mannheimer Schrift- und Urkundenlabor Bromm, Heckeroth, Hoffmann, Müller begutachten lassen. Das Resultat: Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit handele es sich bei dem begutachteten Auszug um ein „mit dem Computer repliziertes“ Produkt. Auch Recherchen dieser Redaktion belegen, dass ein solches Papier sehr einfach herzustellen ist. Die zeittypischen Schriften kann sich jeder im Internet herunterladen. Das bedeutet: Eine ältere Schrift wurde mit den Mitteln einer Bildbearbeitungssoftware am Computer nachgebaut. Der Orden lässt dazu verlautbaren: „Das Dokument ist nicht geeignet, um die Vorwürfe gegenüber den Niederbronner Schwestern zu stützen.“
Gab es ein solches Kassenbuch also gar nicht? Und: Wer hat ein Interesse daran, dem Missbrauchsopfer ein solch gefälschtes Dokument „unterzujubeln“. Oder: Stammt die Fälschung aus seiner eigenen Arbeit am PC? In welchem Licht erscheinen seine Vorwürfe gegenüber Nonnen und dem Bistum, wenn sich so etwas herausstellen sollte?
Schwestern: „Keine Erinnerung“
Andererseits haben psychologische Gutachten anlässlich eines Entschädigungsprozesses vor dem Darmstädter Sozialgericht ihm im vergangenen Jahr eine hohe Glaubwürdigkeit unterstellt und eine posttraumatische Belastungsstörung infolge des Missbrauchs anerkannt. Konrad O. sagt, dass er nie behauptet habe, dass das „Kassenbuch“ echt sei. Er habe indessen - das sagt er am Mittwoch auf erneute Anfrage - das reale Bild in Erinnerung, wie Geld zwischen Priestern und Nonnen ausgetauscht wurde - vor etwa 60 Jahren.
Um das Erinnerungsvermögen an die Zeit in der Engelsgasse ging es auch bei einem Treffen dieser Redaktion mit einigen Schwestern des Ordens am Dienstag im Kloster Esthal im Pfälzerwald. Während einige wenige Monate als Novizinnen in Speyer weilten, blieben andere ein oder zwei Jahre in der Domstadt, ehe sie an andere Wirkungsorte des Ordens versetzt wurden. Einzelne Schwestern können sich erinnern an den Mann, der den Orden nun bezichtigt, ihn bereits in frühester Kindheit misshandelt zu haben - durch die Auslieferung an Prälat Motzenbäcker. Die Schwestern indessen beschreiben in der Rückschau eine mehr oder weniger heile Welt, in der es weder Schläge noch Missbrauch und schon gar keine Zuhälterei gegeben habe. An die Ausgabe von Antidepressiva über längere Zeiträume an bettnässende Kinder können sie sich auch nicht erinnern. Konrad O. beschreibt auch dies in seinen Vorwürfen. Damit stößt er bei den Schwestern ein weiteres Mal auf ungläubiges Kopfschütteln.
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