Speyer. An mindestens zwei Stellen sind in Speyer an Heiligabend Plakate aufgetaucht, die den hundertfachen sexuellen Missbrauch in Speyerer Kinderheimen anklagen. Eines der großformatigen Poster war am Donnerstag direkt am großen Holztor des Historischen Rathauses auf der Maximilianstraße zwischen Dom und Altpörtel aufgehängt. "Die beiden Kinderheime waren das Rotlichtmilieu der Stadt", schreibt der Urheber des Plakats, das gerade in Sozialen Netzwerken geteilt wird. Vieles deutet darauf hin, dass Konrad O. (Name von der Redaktion geändert) die Zeilen verfasst hat.
Nonnen wie Zuhälterinnen
Der in Südhessen lebende Mann hatte nach Ermessen des Darmstadter Sozialgerichts, das ihm in diesem Jahr eine Entschädigung zusprach, jahrelang unter sexuellem Missbrauch zu leiden. Haupttäter war mit Rudolf Motzenbäcker ein hochrangiger Geistlicher des Bistums. Er war Generalvikar und Offizial unter Bischof Kardinal Friedrich Wetter, der nach seiner Station in Speyer als Erzbischof nach München-Freising ging. Der Tatzeitraum lag demnach zwischen 1963 und 1972. In diesen Jahren war Konrad O. in der Speyerer Engelsgasse im Kinderheim untergebracht. Der heute 63-Jährige Mann wurde nach eigener Aussage zwangsgetauft und zum Dienen der Messe in den Dom getrieben. Der amtierende Bischof Karl-Heinz Wiesemann hatte am 11. Dezember in einem Interview mit der Bistumszeitung "Der Pilger" den Namen des Täters öffentlich gemacht. "Er ist mir zuvorgekommen", sagt Konrad O. zu dieser Vorgehensweise Wiesemanns. Das Bistum verteidigt sich und sagt, dass es um Transparenz und Aufarbeitung der damaligen Vorgänge gehe. Bereits im Jahr 2010 hatte sich O. erstmals an den Missbrauchsbeauftragten des Bistums gewendet. Ein persönliches Gespräch zwischen Bischof und Opfer gab es bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Das Bistum sagt, O. habe das Gespräch bisher abgelehnt. O. sagt, dass der Bischof ihn bisher nicht persönlich eingeladen habe. Vergangene Woche kündigte Wiesemann nun an, dies tun zu wollen.
Beichtvater und Vergewaltiger
Rudolf Motzenbäcker, so erzählte es das Opfer gegenüber dieser Redaktion, sei seinerzeit sein Beichtvater gewesen. Unter verschiedenen Vorwänden hätten die Nonnen aus dem Kinderheim ihn immer wieder zu Motzenbäcker gebracht. Dieser wohnte links vor dem Dom in einem der Gebäude, die bis heute von der Kirche genutzt werden. Von der Engelsgasse aus, die hinter dem Bischöflichen Ordinariat gegenüber des Doms liegt, sei er quer über den Domplatz geschleppt worden - viele hundert Mal. Was dann geschah, hat Konrad O. ausführlich geschildert. Motzenbäcker sei sowohl anal als auch oral in ihn eingedrungen. Er habe ihn und andere, darunter auch Mädchen, auf einer Kniebank vergwaltigt. Von Sexpartys mit blutigen Bettlaken, an denen auch andere Priester und mitunter hochrangige damalige Politiker beteiligt gewesen seien, berichtet das Opfer auf einer Homepage im Internet. Auf dem Weg zurück ins Kinderheim sei ihnen Blut die Beine hinunter gelaufen, berichtet O. über die Folgen der Vergewaltigungen.
Jugendamt kündigte Besuche an
Immer wieder im Zentrum dieser Darstellungen stehen die Nonnen aus dem Orden der Niederbronner Schwestern. Wie bereits berichtet, hält man die Vorgänge im Speyer der 60er und 70er Jahre heute für nicht mehr nachvollziehbar. Bei umfangreichen Nachforschungen habe man vor Jahren mit zwei Schwestern gesprochen, die in der Domstadt eingesetzt gewesen seien. Sie haben von sexuellem Missbrauch nichts gewusst, drückt die heutige Provinzoberin Barbara Geißinger aus. Schläge habe es ab und zu gegeben, hätten die Schwestern eingeräumt. Den Niederbronner Schwestern ist indessen wichtig hervorzuheben, dass nicht sie die Trägerschaft des Kinderheims gehabt hätten, sondern die Dompfarreikirchenstiftung. O. berichtet auf seiner Internetpräsenz ausführlich über die Spitznamen, die man den Schwestern gegeben habe. "Schwester Gnadenlos" habe eine geheißen, eine andere "Schwester Prügel" oder einfach nur "Hexe".
Sexpartys? Kardinal kann sich das nicht vorstellen
Für O. sind es insbesondere die Schwestern und die Politik, die Verantwortung zu übernehmen hätten. "Die vom Jugendamt haben auch weggeschaut und ihre Besuche eine Woche vorher angekündigt", sagt O. Der heutige Vater von zwei Kindern erinnert sich, dass er im Alter von etwa 14 Jahren mindestens einen Brief beim Bischof in den Briefkasten geworfen habe. Dort habe er aufgeschrieben, welches Leid ihm zugefügt werde. Ob dieser Brief jemals ankam, ist schwer zu sagen. Kardinal Friedrich Wetter, der heute 92-jährig in einem Seniorenheim in Bayern lebt, hat laut Aussage des heutigen Speyerer Bischofs keine Erinnerung mehr an einen solchen Brief. Überhaupt könne er sich nicht vorstellen, dass Prälat Motzenbäcker Sexpartys veranstaltet hätte. Er habe ihn anders kennengelernt.
Weitere Missbrauchsfälle in Dudenhofen
Anders kennengelernt hat Kardinal Wetter womöglich auch andere Pfarrer aus dem Bistum Speyer. So sagte die Pressestelle des Bistums in dieser Woche auf Anfrage, dass sich beispielsweise in der Dudenhofener Kirchengemeinde St. Gangolf seit dem Jahr 2003 fünf Opfer von Missbräuchen gemeldet hätten. In den 60er und 70er Jahren seien sie vom damaligen Pfarrer, der 2012 verstorben ist, sexuell missbraucht worden. Die unabhängigen Missbrauchsbeauftragten des Bistums haben dem Bericht der Betroffenen Glauben geschenkt. Pressesprecher Markus Herr sagt, das Bistum habe an die Betroffenen Leistungen in Anerkennung des Leids geleistet - im einen Fall in einer Höhe von 4.000 Euro, im anderen Fall in Höhe von 10.000 Euro. Drei Beschuldigungen seien noch zu Lebzeiten des Pfarrers erfolgt. Er habe die Taten gestanden und die Finanzierung der Leistung in Anerkennung des Leids in Höhe von 4.000 Euro an einen Betroffenen aus eigener Tasche geleistet. Die beiden anderen Betroffenen hätten kein Geld gewollt.
208 bisher bekannte Missbrauchsopfer im Bistum Speyer
Nach einem Bericht von "Die Rheinpfalz" vom Mittwoch gibt es mit Blick auf das gesamte Bistum Speyer, das bis ins Saarland reicht, inzwischen 208 bekannte Missbrauchsopfer. Wie Konrad O. benötigten viele Jahrzehnte, um den Mut aufzubringen, mit ihrer Geschichte zu den jeweiligen Missbrauchsbeauftragten zu gehen. Die Plakataktion in Speyer vom Heiligen Abend ist insofern eine neue Dimension. Auf einem Plakat ist ein totes Mädchen beschrieben, das sich nach Missbräuchen aufgehängt habe. Er habe dieses Mädchen tot an einem Balken hängend gefunden, so der Plakatierer. Konrad O. hatte diese Szene schon gegenüber dieser Redaktion beschrieben. Die Staatsanwaltschaft in Frankenthal hat seit März 2020 keine Hinweise auf eine Strafttat gefunden und weitere Ermittlungen aufgegeben.
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