Speyer/Frankenthal. Hat Tanja H. ihren wenige Monate alten Sohn Milan (Name geändert) bewusst verletzt, um regelmäßige Arzttermine zu provozieren und selbst im Mittelpunkt zu stehen? Dieser Frage soll im Prozess um die Misshandlung von Schutzbefohlenen am Frankenthaler Landgericht nach dem Willen der Anwälte von Demetrius H. ein Facharzt für Psychiatrie nachgehen. Am Donnerstag beantragte Verteidigerin Inga Berg ein Gutachten, das abklären soll, ob die angeklagte Mutter unter dem Münchhausen-by-proxy-Syndrom leidet. Dabei handelt es sich um eine artifizielle Erkrankung, bei der betreuende Personen, zu 98 Prozent Frauen, Krankheitssymptome bei einem Kind provozieren. Sie ist eine Form der Kindesmisshandlung.
Erstmals ausführlich über diese Hypothese gesprochen hatte beim vorangegangenen Verhandlungstag der Amtsvormund des heute dreijährigen Kindes, Jochen Götzmann. Im Kreise der Kollegen habe man über diese Vermutung gesprochen, nachzuweisen sei sie aber nicht gewesen. Als auffällig beschrieb er insbesondere die Darstellungen vieler Zeugen von Tanja H. als tolle und besorgte Mutter und die große Diskrepanz zu den schier unerklärlichen Verletzungen. H. sei zudem sehr affin, was medizinische Themen anbelange, was häufig auch auf Betroffene zutreffe. Und zu guter Letzt habe sich der Zustand von Milan rapide verbessert, nachdem er von seiner Mutter getrennt worden sei.
Schwer zu diagnostizieren?
Nun soll Hartmut Pleines, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, die 32-Jährige im Hinblick darauf untersuchen. Die Kammer muss über den Antrag noch entscheiden. Götzmann hatte zuletzt gesagt, dass eine Diagnose beim Münchhausen-by-proxy-Syndrom sehr schwer sei, insbesondere, nachdem die Interaktion zwischen Mutter und Kind getrennt worden sei. Anders als in anderen Ländern sei in Deutschland auch eine Videoüberwachung nicht umsetzbar, wie sie häufig zum Nachweis herangezogen werde.
Härtere Vorwürfe gegen Vater
Mit dem Antrag will die Verteidigung des Vaters den Nachweis erbringen, dass es nicht ausgeschlossen ist, dass die Mutter dem Kind die zahlreichen und schweren Verletzungen zugefügt hat. In der Anklage richten sich die Vorwürfe der Gewalteinwirkung in erster Linie gegen den 39 Jahre alten Demetrius H. Dieser soll den Säugling geschlagen und dessen Kopf gegen einen harten Gegenstand gestoßen haben, woraufhin das Kind fast gestorben wäre.
Objektivierbare Beweise liegen für diese Annahme laut Verteidigung jedoch nicht vor. Sie beruhe allein darauf, dass sich der Junge am 12. Juli 2020 für rund zwei Stunden in der Obhut des Vaters befunden habe, ehe sich dessen Gesundheitszustand rapide verschlechterte. Ein Sachverständiger solle daher bekunden, dass Tanja H. an der Erkrankung leide und sehr wohl für die Taten in Betracht komme.
Am Donnerstag sagte außerdem eine behandelnde Kinderärztin vor dem Landgericht aus. Sie hatte bereits im April 2020 den Verdacht einer Kindeswohlgefährdung aufgebracht, als die Mutter mit dem Baby bei ihr vorstellig geworden sei. Die Erklärungen für die Verletzungen seien „nicht plausibel“ gewesen. Tanja H. habe bei den Arztbesuchen aber immer authentisch besorgt gewirkt, sie sei „sachlich und hilfsbereit“ gewesen.
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