Gesellschaft - Experten haben bislang keine Anhaltspunkte für eine Zunahme von Fällen – und raten zu Besonnenheit

Mehrere Amoktaten innerhalb weniger Tagen - Zufall oder nicht?

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Agnes Polewka
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Einsatzkräfte an der Unfallstelle. © René Priebe

Mannheim/Wiesloch. Die Bluttat vom Sonntagabend hat ein diffuses Gefühl hinterlassen. Ein Mann tötet laut Polizei in Ellerstadt im Kreis Bad Dürkheim seinen Vater. Anschließend soll er im Wagen seiner Mutter davon gefahren sein. 23 Kilometer entfernt in Mannheim-Neckarau rammt er nach Angaben der Beamten vier Radfahrer - einen nach dem anderen. Offenbar absichtlich. Eine Frau stirbt, ihr Ehemann und ein weiterer Mann kämpfen um ihr Leben. Der vierte Radler wurde inzwischen aus der Klinik entlassen. Die Ermittler haben bekannt gegeben, dass der mutmaßliche Täter wegen einer psychischen Erkrankung in Behandlung war. Eine Woche zuvor soll er aus einem psychiatrischen Krankenhaus entlassen worden sein.

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Die Tragödie folgt auf eine Reihe anderer Taten, die in der vergangenen Woche für Entsetzen gesorgt haben. Am 8. Juni lenkt ein Mann in Berlin seinen Wagen auf Höhe der Gedächtniskirche von der Fahrbahn auf den Gehweg. Mit hoher Geschwindigkeit. Laut Polizei fährt er in zwei Menschengruppen, eine Frau stirbt, 30 Passanten werden verletzt, sechs von ihnen lebensgefährlich. Der mutmaßliche Täter soll psychisch krank gewesen sein. Zwei Tage nach der tödlichen Autofahrt in Berlin dann das nächste Drama in Hamm in Nordrhein-Westfalen. Wieder soll ein psychisch kranker Mann Menschen attackiert haben. Wieder stirbt eine Frau.

Welche Rolle spielen schwierige Lebensumstände

„Normalerweise verzeichnen wir in Deutschland etwa vier bis fünf solcher Taten im Jahr“, sagt Jutta Kammerer-Ciernioch, Ärztliche Direktorin am Psychiatrischen Zentrum Nordbaden (PZN) in Wiesloch. Ob es sich bei den Fällen in der vergangenen Woche um eine zufällige Häufung oder eine reelle Zunahme handelt - darüber können Experten nur spekulieren. Denn: Bisher fehlen belastbare Daten, ob sich Amoktaten tatsächlich mehren. „Das ist bislang nur ein Gefühl - die Faktenlage lässt sich nur im längsschnittlichen Verlauf wirklich beurteilen“, sagt Harald Dreßing, Leiter der Forensischen Psychiatrie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim. „Dafür müssen wir uns einen Zeitraum von mindestens ein, zwei Jahren ansehen.“

© picture alliance/dpa/ZI

Die Amoktaten - also eine Momentaufnahme. Eine, die in eine krisenbehaftete Zeit fällt. Corona, der Ausbruch des Ukraine-Kriegs, die Inflation. Begünstigen schwierige Lebensumstände menschliche Dramen? „Natürlich wirken Geschehnisse in der Außenwelt auf jeden Menschen ein, sie können aber nicht als alleinige Erklärung für solche Taten herangezogen werden“, sagt Dreßing. „Es sind immer vielfältige Ursachenbündel zu bedenken, die jeweils gutachtlich untersucht werden müssen.“

Unsichere Zeiten als Stressoren

Ohnehin steht die Frage im Raum, ob die Zahl psychischer Erkrankungen in Krisen ansteigt und wie sie sich auf Menschen mit psychischen Erkrankungen auswirken - ganz unabhängig von den Taten der vergangenen Tage. Denn: „Unsichere Zeiten bedeuten Stress für unsere Psyche“, sagt die Wieslocher Psychiaterin Kammerer-Ciernioch. Dies gilt ganz grundsätzlich und für alle. Aber: Menschen gehen unterschiedlich mit schwierigen Lebenssituationen um. Experten unterscheiden resiliente, psychisch besonders widerstandsfähige Menschen, die auch im Schlechten nach dem Guten suchen, und vulnerable Personen. Männer und Frauen, die verletzlich sind, insbesondere dann, wenn sie psychisch erkrankt sind.

© Susann Rossberg

„Jemand, der unter hypochondrischen Ängsten leidet oder eine ängstliche Persönlichkeit besitzt, hat in der Pandemie eine sehr kritische Zeit durchlebt - diese Belastung wird durch die Flut an Bildern aus der Ukraine nochmals gesteigert“, so Kammerer-Ciernioch.

Auch für Menschen mit depressiven Erkrankungen seien unsichere Zeiten besonders herausfordernd. „Sie plagen eine Vielzahl negativer Gedanken und haben oftmals eine eingeschränkte Perspektive auf sich selbst und die Welt, nämlich eine negative“, sagt die Wieslocher Psychiaterin. Krisenzeiten verstärkten negative Gedankenschleifen, in denen Betroffene ohnehin verhaftet seien.

Kammerer-Ciernioch betont, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen in ihrer Gesamtheit nicht gefährlicher sind als gesunde. „Innerhalb der psychisch Kranken gibt es eine kleine Gruppe, die ein deutlich erhöhtes Gewaltrisiko in sich trägt.“

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Das Risiko, Opfer einer Amoktat zu werden, sei sehr gering. Die Experten raten, sich dies immer wieder zu vergegenwärtigen, besonnen zu bleiben und nicht in Panik zu geraten. Zumal jedes Detail, das wieder und wieder hervorgeholt werde, andere Betroffene zur Nachahmung bewegen könne.

„Es ist nachvollziehbar, dass manche Menschen auf die Berichte über Amoktaten insbesondere in Krisenzeiten mit Angst reagieren. Wenn solche Gefühle zu stark werden, sollte man sich professionelle Hilfe suchen, auch wenn das tatsächliche Risiko, Opfer einer Amoktat zu werden äußerst gering ist“, resümiert der Mannheimer Forensiker Harald Dreßing. 

Redaktion

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