„Ich hatte keinen Anlass, an der Rechtmäßigkeit zu zweifeln“: Im Prozess vor dem Mannheimer Landgericht um das massenhafte Ausstellen von Kurzzeitkennzeichen in der Außenstelle Wiesloch des Landratsamts Rhein-Neckar sowie um Bestechung und Bestechlichkeit hat sich am Dienstag zum ersten Mal der Hauptangeklagte geäußert. Er las über mehrere Stunden eine Erklärung vor, in der er betont, stets davon ausgegangen zu sein, dass die Juristen und Verantwortlichen im Landratsamt die Abläufe und Gebührenansätze genauestens geprüft hätten.
Eine mitangeklagte ehemalige Referatsleiterin aus der Zulassungsstelle des Rhein-Neckar-Kreises in Wiesloch gab ebenfalls eine Stellungnahme ab. Sie räumte Fehler ein, machte aber eine chronische Überarbeitung dafür verantwortlich, dass sie möglicherweise „den Überblick verloren oder falsche Schwerpunkte gesetzt“ habe. Sie habe aber nie aus kriminellen Motiven heraus gehandelt, betonte sie.
Der Unternehmer, der sich auf Geschäfte im Zusammenhang mit Kfz-Zulassungen spezialisiert hatte, soll zwischen 2012 und 2014 mehr als 180 000 Kurzzeitkennzeichen erhalten haben. Die Zulassungsstelle Wiesloch, so der Vorwurf der Anklage, prüfte den Bedarf nicht, obwohl sie dazu verpflichtet gewesen wäre. Zudem sollen 800 dieser Spezialkennzeichen mit den Daten von 14 Personen gebucht worden sein, die davon nichts wussten. Illegal soll die Behörde dem angeklagten Unternehmer zudem Auskünfte aus dem Fahrerlaubnisregister erteilt haben. Im aktuellen Prozess müssen sich neben dem Unternehmer, der acht Millionen Euro aus diesem Geschäft mit den Kennzeichen eingenommen haben soll, auch eine ehemalige Amtsleiterin und die ehemalige Referatsleiterin verantworten.
Geschäft startet mit Re-Importen
Fragen ließen weder der Angeklagte noch die frühere Referatsleiterin zu. Und so lauschten der Vorsitzende Richter Andreas Lindenthal und seine fünf Richterinnen und Richter sowie der Staatsanwalt über mehrere Stunden den Ausführungen. In seiner Erklärung ging der 55-Jährige weit zurück ins Jahr 1991, in dem seine Zusammenarbeit mit dem Rhein-Neckar-Kreis begonnen hatte. Mit importierten EU-Fahrzeugen startete das Geschäft, das bald im großen Stil abgewickelt wurde, berichtete der Angeklagte, der sich auf die Beantragung von Ausnahmegenehmigungen spezialisierte.
Dabei ging es zunächst um Re-Importfahrzeuge aus Frankreich, die unter anderem wegen ihrer gelben Scheinwerfer nicht in Deutschland zugelassen werden durften. Sie mussten mit „Leerbriefen“ ausgestattet werden. Als das Geschäft florierte, sei er ans Landratsamt herangetreten und habe angefragt, ob es personelle Kapazitäten für das Ausstellen von 11 000 solcher Briefe gebe, stellte der Unternehmer seine Sicht der Dinge vor. Wenig später sei er mit 50 000 Leerbriefen (1993) und dann 85 000 Briefen (1995) zum Großkunden der Zulassungsstellen des Rhein-Neckar-Kreises geworden. Es habe viele Anfragen von Zulassungsstellen zwischen München und Wolgast gegeben, beschreibt sich der Unternehmer als umworbenen Geschäftspartner.
"Schnäppchenpreise" nicht bestritten
2008 habe er „etwas Neues“ machen wollen und habe eine Kooperation mit einem der größten Schilderpräger begonnen. Eines der gemeinsamen angebotenen „Produkte“ seien die Kurzzeitkennzeichen geworden. Das Geschäft mit den gelben Kennzeichen, die für Überführungen und Probefahrten gedacht waren und fünf Tage gültig waren, florierte.
Das sorgte bald für bundesweite Kritik. So berichtete diese Redaktion bereits im September 2013 von dem massenhaften Auftauchen der „HD 04“-Kennzeichen auch im kriminellen Umfeld, über das der Leiter der Zulassungsstelle Nürnberg berichtete. Tankbetrug etwa war ein typisches Vergehen, bei dem Kriminelle gerne die Kurzzeitkennzeichen verwendeten - weil den Behörden zunächst nur ein Antragsteller bekannt war, nicht aber, für welches Fahrzeug es verwendet wurde und wer letztlich am Steuer saß.
Der Unternehmer soll 60 bis 70 Euro pro Kurzzeitkennzeichenpaar von seinen Kunden erhalten haben. Die Behörde stellte ihm 5,10 Euro in Rechnung. Diesen „Schnäppchenpreis“ bestreitet der Angeklagte nicht. Es sei vielmehr bundesweit Usus, dass Zulassungsstellen ihren Großkunden bei den Gebührenkalkulationen entgegenkommen, zitierte der Unternehmer reihenweise Städte und die angeblich von ihnen eingeräumten „Rabatte“ von bis zu 70 Prozent bei Zulassungsgebühren, was zum Beispiel Mietwagenfirmen dazu bewege, ihre Flotten in einer bestimmten Stadt oder Region zuzulassen.
Eigenes EDV-System
„Ich hatte zu keinem Zeitpunkt Zweifel daran, dass das nicht rechtskonform sein könnte“, unterstrich der 55-jährige Angeklagte. Mit dem Online-System, das in der Wieslocher Zulassungsbehörde als einziger im Bundesgebiet installiert war und das zeitweilig sogar das Ausdrucken von Fahrzeugscheinen auf Druckern außerhalb der Behörde ermöglicht haben soll, habe er nichts zu tun gehabt, betonte der Angeklagte, bald „nur noch“ Rechnungsadressat für den Kreis gewesen und für angeschlossene Zulassungsdienste in Vorkasse gegangen zu sein. „Aus heutiger Sicht hätte ich mit viel Ärger erspart, wenn ich mich aus dem Geschäft früher zurückgezogen hätte“, blickt der 55-Jährige zurück.
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