Nach einem spannenden zweiten Wahlgang steht in der Kurpfalzmetropole der neue Oberbürgermeister fest - Christian Specht. Der Christdemokrat setzte sich mit hauchdünnem Vorsprung gegen seinen SPD-Kontrahenten Thorsten Riehle durch. Dass dieser als bekennender Schwuler um den Chefsessel im Mannheimer Rathaus gekämpft hat, spielte im Wahlkampf keinerlei Rolle. Da drängt sich auf daran zu erinnern, dass Anfang des 20. Jahrhunderts bereits der Verdacht auf Homosexualität genügte, um Amt und Würde zu verlieren - was die Bürgermeister von Neckargemünd und Schifferstadt schmerzlich erlebten. Ihr Schicksal hat der Historiker Christian Könne recherchiert und aus der Vergessenheit geholt.
Nachzulesen ist die Geschichte von Wilhelm Steinbrunn und Walther Braun in der Dokumentation „Queer im Leben!“, die „geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in Geschichte und Gegenwart der Rhein-Neckar-Region“ ausleuchtet. Das vom Marchivum , dem Mannheimer Archiv und Haus der Stadtgeschichte, im Juli 2022 herausgegebene Buch zeichnet sich durch ein ungewöhnliches Geleitwort aus: Darin erklären die Oberbürgermeister von Mannheim und Heidelberg, Peter Kurz und Eckart Würzner, gemeinsam mit ihrer linksrheinischen Kollegin und Ludwigshafener OB Jutta Steinruck, dass queeres Leben und damit Anderssein zur Region gehören - und dass sich die drei Kommunen verpflichten, Menschen mit geschlechtlichen Identitäten jenseits vermeintlicher Normen „gegen Ausgrenzung und Diskriminierung zu schützen“.
Beifall bei Freispruch
Rückblick: Als sich Wilhelm Steinbrunn, ein aus Durlach (inzwischen Stadtteil von Karlsruhe ) stammender und zunächst in Konstanz tätiger Gemeindebeamter anno 1909 in Neckargemünd um die Position des Bürgermeisters bewirbt und auch gewählt wird, berichtet das Wochenblatt seiner Heimatgemeinde geradezu schwärmend über das solide Leben wie freundlich-offene Wesen des damals 32-Jährigen. Doch schon bald soll der junge Amtsträger weit über die Region hinaus zweifelhafte Publizität erhalten.
Aufgrund einer Anzeige nach dem Paragrafen 175, der „widernatürliche Unzucht“ zwischen Männern unter Strafe stellt, wird Steinbrunn am 16. April 1910 im Rathaus verhaftet - und dies öffentlichkeitwirksam, so Historiker Könne. Eine Droschke bringt den Bürgermeister begleitet von Polizei nach Heidelberg ins dortige Untersuchungsgefängnis.
Infos zum Buch
- „Queer im Leben!“ gehört zu der Marchivum Schriftenreihe (Band 9) und dokumentiert „geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in Geschichte und Gegenwart der Rhein-Neckar-Region“.
- Das 344 Seiten starke und reich bebilderte Buch ist im „verlag regionalkultur“ erschienen. Preis mit DVD 29,80 Euro.
- Viele Recherchen und Texte stammen von dem promovierten Historiker und Germanisten Christian Könne.
Beim Prozess vier Wochen später, den ausschließlich Pressevertreter verfolgen dürfen, sind neben den beiden Bezirksärzten als Gutachter zwölf Zeugen geladen. Die Aussagen eines Wirtes und die „kopflosen Angaben“ des Festgenommenen haben offenbar eine Inhaftierung als angebracht erscheinen lassen. Hingegen bringt die siebenstündige Verhandlung keinerlei Beweise für sexuelle Handlungen, die eine Verurteilung voraussetzen. Und so spricht das Gericht den angeklagten Steinbrunn frei. Dass der Richterspruch in dem Vorraum, wo das ausgesperrte Publikum ausharrt, mit Beifall aufgenommen wird, bezeichnet der Historiker als „bemerkenswert“ und kommentiert: „Offenbar gab es Menschen, die hinter Steinbrunn standen.“
Der Gemeinderat von Neckargemünd, der noch einen Monat zuvor überlegt hat, gegen die in Szene gesetzte Festnahme des Bürgermeisters Beschwerde zu erheben, will aber den Mann mit Verdacht auf Homosexualität loswerden. Freispruch hin oder her. In einem einstimmigen Beschluss spricht die Bürgerschaftsvertretung heuchlerisch Steinbrunn „vollste persönliche Sympathie und Anerkennung“ für geleistete Arbeit aus. Gleichzeitig wird mit angeblichem Bedauern mitgeteilt, dass „infolge des Strafverfahrens und der Verhaftung ein ersprießliches Weiterarbeiten im Dienste der Gemeinde eine absolute Unmöglichkeit geworden ist“. Wenige Monate später wandert Wilhelm Steinbrunn in die USA aus, wo er sich laut Archivunterlagen 1918 einbürgern lässt und in Kalifornien „modern languages“ unterrichtet.
Ob der aus dem Elsass stammende und später in Heidelberg lebende promovierte Jurist Walther Braun von Steinbrunns Schicksal weiß, als er sich 1920 im pfälzischen Schifferstadt erfolgreich um das Bürgermeisteramt bewirbt? „Offenbar erledigte er seine Dienstgeschäfte zur Zufriedenheit, denn seine Probezeit wurde auf die Hälfte reduziert“, schreibt Historiker Könne. Wie der einstige Bürgermeister-Kollege in Neckargemünd gerät auch Braun gerade mal ein Jahr an der Rathausspitze in die Mühlen der Justiz. Er soll in einem Verfahren, das in Speyer wegen eines Verstoßes gegen den Paragrafen 175 geführt wird, zunächst als Zeuge Angaben machen. Hintergrund: Bei dem Angeklagten handelt es sich um einen der ersten offensiv agierenden Schwulenaktivisten, nämlich Theodor Wangemann. Der verheiratete Theologe mit bewegtem Leben hat gegenüber der Polizei ausgesagt, der Schifferstadter Bürgermeister unterhalte mit einem Studenten ein Verhältnis.
Am Neujahrstag 1922 werden Braun und sein Freund in einer Heidelberger Wohnung verhaftet. Den Polizisten kommen bereits mehrere Anzüge aus farbig gemusterten Stoffen verdächtig vor. Eine Durchsuchung der Dienstwohnung in Schifferstadt bringt zwar Hinweise, dass sich die zwei befreundeten Männer nahe stehen, es finden sich aber keine Beweise für strafbare sexuelle Handlungen. Und so wird Braun nach drei Wochen und von ihm eingelegter Haftbeschwerde aus dem Heidelberger Gefängnis entlassen.
Politische Attacken
Wie Könnes Recherchen offenbaren, steht auch in Schifferstadt schnell fest: Ein Bürgermeister mit Verdacht auf Homosexualität soll aus dem Rathaus verschwinden. Nun sucht man, unterstützt von der Kammer des Inneren in Speyer, nach angeblichen Verfehlungen - bis hin zu dem kuriosen Vorwurf, Braun habe nach zu viel Alkohol vergessen, ein Paar am vereinbarten Termin standesamtlich zu trauen. Der Gemeinderat beschließt mehrheitlich eine vorläufige Amtsenthebung ohne Gehaltszahlung. Der versierte Jurist setzt sich vor Gericht zur Wehr, akzeptiert aber nach mehreren Instanzen einen Vergleich mit „freiwilligem“ Amtsverzicht plus finanzieller Entschädigung. Gleichwohl skandalisieren Zeitungen seine Homosexualität, insbesondere der örtliche „Rehbach-Bote“ , gegen den der aus dem Rathaus gedrängte Ex-Bürgermeister sogar einen Prozess gewinnt. Braun wird auch politisch attackiert, weil man ihm seine Elsass- Herkunft übel nimmt und suspekte Kontakte zur französischen Besatzungsmacht unterstellt.
Walther Braun zieht nach Mannheim, wo er schon bald ein weiteres Mal wegen Verdachts einer Straftat in Zusammenhang mit dem Paragrafen 175 festgenommen wird. Es liegt die Vermutung nahe, so Historiker Könne, dass die Kriminalpolizei den inzwischen 40-Jährigen sowohl als angeblichen Franzosenfreund wie Homosexuellen überwachen ließ. Wie sein Leben weiterging, ist unbekannt. Nach 1923 verliert sich die Spur.
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