In der Fachwelt sind Grünastbrüche schon mindestens zehn Jahre ein Thema. Doch so langsam kommt das Phänomen auch in den breiten Schichten der Bevölkerung an – schlimmerweise befeuert von tragischen Unfällen: Von außen kerngesunde Bäume werfen urplötzlich Äste ab, schenkeldickes Holz bricht unvermittelt aus Baumkronen.
Wissenschaftlich erforscht ist das Phänomen noch keineswegs. Aber Praktiker haben Beobachtungen aus ganz Deutschland zusammengetragen. Sie wissen, um welche Tageszeiten welche Bäume ihr Geäst abstoßen. Die Fachleute vermuten einen Zusammenhang mit dem fortschreitenden Klimawandel. In längeren Hitzeperioden, so die Theorie, können Bäume nicht mehr ihre ganze Krone ausreichend mit Nährstoffen versorgen. Außerdem könnte es durch die Sonneneinstrahlung zu Strukturveränderungen im Holz kommen, die das Geäst spröde werden lassen.
Das Fatale: Nichts, aber auch gar nichts deutet auf einen bevorstehenden Astbruch hin. Das hat auch das Gutachten ergeben, das die Staatsanwaltschaft Heidelberg nach dem tragischen Unglück auf dem Heidelberger Spielplatz in Auftrag gegeben hatte. Der Gutachter bestätigte, dass auch er keine Anzeichen im Holz vorab entdeckt hätte. Und jetzt wird bekannt, dass rund eine Woche vor dem Heidelberger Unglück ein Kleinkind im Luisenpark haarscharf einer weiteren Tragödie entgangen ist. Das sorgt ganz gewiss nicht dafür, dass Verantwortungsträger nachts gut schlafen können.
Ausgerechnet die Bäume, die an heißen Tagen für ein angenehmes Stadtklima sorgen können, die Temperaturunterschiede von mehr als zehn Grad im Vergleich zu blanken Betonflächen bewirken und die das problematische Klimagas CO₂ aus der Luft holen, entpuppen sich plötzlich als Gefahr für Leib und Leben. Das stellt die Städte vor ein gigantisches Problem. Wie sollen die Grünflächenämter landauf, landab den öffentlichen Raum wirksam vor Grünastbrüchen sichern? Heidelberg hat 50.000 Bäume im Stadtgebiet. Da ist noch kein einziger Baum im großen Stadtwald eingerechnet, in dem auch Wanderer unterwegs sind. Wer ist im Fall des Falles eigentlich verantwortlich für den Schaden an Leib und Leben? Die Antwort kann aktuell ehrlicherweise niemand geben.
Auch wenn die Vorfälle sich häufen und es einen tragischen Ausgang gegeben hat: Panik ist ein schlechter Ratgeber. Grünastbrüche sind – gemessen an der Anzahl von Bäumen in den Städten – noch immer die große Seltenheit. Und sie gehören zu den Gefahren, die im Alltag drohen, wenn wir über die Straße laufen, auf Leitern steigen oder uns in den Zug setzen. Aber Grünastbrüche kommen mittlerweile signifikant oft vor. Es wird Zeit, dass das Thema in den Fokus rückt. Momentan hat es eher den Eindruck, dass die Kommunen das Phänomen in aller Ratlosigkeit totschweigen. Aber diese Strategie hat noch nie geholfen.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/meinung/kommentare_artikel,-kommentar-gruenastbrueche-ein-fatales-phaenomen-_arid,2323198.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.de/orte/heidelberg.html
Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Grünastbrüche - ein fatales Phänomen
Bernhard Zinke fordert, das Thema Grünastbrüche endlich ernst zu nehmen.