Ludwigshafen. „Harmony“: Das, was Amerika zurzeit am meisten fehlt - bei Bill Frisell ist es Programm. So nannte sich bereits seine Debüt-Aufnahme für das Plattenlabel Blue Note, die 2019 auf den Markt kam. Und so lautet auch die Überschrift des Enjoy Jazz-Konzerts im leider nicht besonders prall gefüllten Feierabendhaus der Ludwigshafener BASF, für das der Gitarrist exakt in der Besetzung der besagten Plattenaufnahme erschienen ist. Eine verschworene Gemeinschaft trifft da aufeinander, Frisells Quartett sitzt dicht beisammen, bildet fast eine Art Wagenburg. Man hakt sich unter - wie es hierzulande der Herr Bundeskanzler immer so schön sagt. Die Bühne wird zum Rückzugsraum, es dominieren noble Nostalgie und leise Wehmut. Schon der erste Song fragt melancholisch: „Where Have All The Flowers Gone?“
Aber die Schwermut wird mit strahlend heller Stimme vorgetragen. Einer Stimme, die fantastisch klar artikuliert und intoniert. Die selbst in höchster Lage mit schier makelloser Textverständlichkeit bezwingt. Doch sich auch selbstvergessen auf ein bloßes „Lalala“ beschränken kann. Es ist die Stimme Petra Hadens, Tochter einer wahren, aber leider toten Jazz-Ikone: des Bassisten Charlie Haden.
Jazz hört man an diesem Abend aber allenfalls zum Teil. Es zählte immer schon zu den Besonderheiten Bill Frisells, dass er die Genre-Grenzen durchlässig, wenn nicht gar überflüssig macht. Man könnte sich in Ludwigshafen manchmal fragen, ob er überhaupt die Hauptperson bei dieser Unternehmung ist.
Herzerweichendes Ergebnis
Das „Singing Thing“ in der Musik war ihm ja stets ein großes Anliegen, auch dort, wo die Musik instrumental war. Aber diesmal wird in jedem Stück gesungen, hauptsächlich von Petra Haden. Auch der Harmoniegesang hat einen hohen Stellenwert im „Harmony“-Projekt. Da mischen dann Hank Roberts (mit markantem Brummbass) und Luke Bergman mit, vermischen ihre raueren Organe mit den reinen, unbelegten Stimmbändern von Haden. Oft mit herzerweichendem Ergebnis.
Roberts spielt ansonsten Cello, dessen hohe Klangregister unter seinem Zugriff etwas unfrei wirken. Schmalbrüstig. Aber ein bloßer Kontrabass-Ersatz will er auch nicht sein. So wenig wie Luke Bergman, ein Allrounder, der im Zweifelsfall lieber eine Gitarre in die Hand nimmt. Aber da gibt es ja Bill Frisell, den großen Kammermusiker des Jazz, der seine Saiten nie harsch anreißt, sondern lieber sanft beatmet. „Echte“ Soli spielt er kaum im Feierabendhaus. Und doch strahlt seine Könnerschaft aus jeder noch so kleinen „Single Note“. Weil sie jenen entscheidenden Prozentpunkt mehr Präsenz - um nicht zu sagen Aura - als bei minderen Talenten hat.
Die ausgewählten Songs sind teilweise uralt, recht oft aus Nashville und Umgebung, und begeben sich auf eine Suche nach dem heileren und „besseren“ Amerika, das man nicht den Sektierern und Reaktionären überlassen will. Frisells Projekt ist, ohne dass es auf der Bühne ausgesprochen wird, auch von politischer Bedeutung. Und der Gitarrist, der mittlerweile stolze 71 Jahre auf dem Buckel hat, Hank Roberts und Luke Bergman arbeiten auf ihre Art an einer Ehrenrettung für den vielgeschmähten alten, weißen Mann.
Am Schluss des „offiziellen“ Teils des Konzerts folgt eine Überraschung: Doch ein alter Song ist David Bowies Hit „Space Oddity“ von 1969 letztlich auch. Der Song von Major Tom, der völlig frei im Weltall schwebt („The stars look very different today“) - aber vielleicht ja nur ein Junkie ist, wie Bowie später einmal meinte. Bill Frisells Gitarre jedenfalls klingt ausnahmsweise nicht quasi-akustisch weich und samtig, sondern „spacig“ und verzerrt.
Noch immer aktueller Protestsong
Das Publikum fordert natürlich Zugaben. Und es erhält „The End Of The World“, eine in Deutschland kaum bekannte Country-Pop-Perle von 1962. Darin geht es aber offenbar „nur“ um das Ende der Beziehung zu einem geliebten Menschen, wie dem glockenhellen Vortrag Petra Hadens zu entnehmen ist.
Das allerletzte Lied verbreitet sogar Zuversicht, noch immer und trotz allem: „We Shall Overcome“. Der Schlüsselsong der Bürgerrechtsbewegung, mit dem Namen wie Pete Seeger oder Joan Baez zu verbinden sind. Aber auch Charlie Haden, der ihn auf der ersten Platte seines Liberation Music Orchestra als Schlussstück einsetzte. Die Stimme seiner Tochter klimmt im Feierabendhaus noch ein paar Töne höher.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/kultur_artikel,-kultur-eingeschworenes-kollektiv-der-leisetreter-im-feierabendhaus-_arid,2015691.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.dehttps://www.mannheimer-morgen.de/firmen_firma,-_firmaid,20.html