Seit der bundesweiten Razzia im Dezember 2022 gegen die mutmaßliche Reichsbürger-Gruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß wurde die Frage nach einer Bedrohung durch Reichsbürger vielfach in Medien und Politik thematisiert. Während einige politische Akteure bewusst verharmlosend von einem „Rollator-Putsch“ sprechen, verweisen die deutschen Sicherheitsbehörden auf die länderübergreifende Bedrohung für unsere Demokratie und das physische Wohl von Menschen durch diese Szene – zu Recht. Anhand von drei Aspekten wollen wir dieses Gefahrenpotenzial genauer skizzieren: alternative Medienpraxis, Waffenaffinität und eine zunehmende Trennschwäche zu anderen Extremismusformen.
Doch zunächst aller Klarheit halber: Was sind Reichsbürger? Der Verfassungsschutz definiert im Kern darunter Einzelpersonen oder Personenzusammenschlüsse, die die Legitimität der Bundesrepublik und ihre Rechtsordnung nicht anerkennen. Stattdessen sehen sie sich als „Staatsangehörige des Deutschen Reiches“ in den Grenzen von 1937 bzw. 1939 oder 1871, kurz: als Reichsbürger. Dieses Selbstbild ist häufig verschwörungstheoretisch begründet und geht mit der Proklamation eigener Gesetze oder pseudofeudalen Herrschaftssystemen einher.
"Mindestens 5 Prozent haben eine Verbindung zum Rechtsextremismus und 10 Prozent sind gewaltorientiert"
Zu den größten Zusammenschlüssen dieser Art zählen derzeit zum Beispiel das „Königreich Deutschland“ oder die „geeinten deutschen Völker und Stämme“. Die genaue Ausgestaltung dieser Systeme sowie die daran gekoppelten Ablehnungsnarrative der Bundesrepublik Deutschland variieren mitunter stark. Auch deswegen sind die aktuell 23 000 erfassten Reichsbürger als Phänomenbereich stark heterogen.
Dennoch lässt sich übergeordnet folgendes festhalten: Mindestens 5 Prozent haben eine Verbindung zum Rechtsextremismus und 10 Prozent sind gewaltorientiert – teilweise durch einen geübten Umgang mit Waffen. Des Weiteren lassen sich wiederholt Antisemitismus, Rassismus und Demokratiefeindlichkeit als gemeinsame Narrative beobachten – sowohl in den sozialen Medien als auch bei Demonstrationen.
Das Gefahrenpotenzial durch Reichsbürger ist deswegen auch nicht auf einen bestimmten Aspekt begrenzt, sondern multidimensional. Aus diesem Grund stehen Gesellschaft, Sicherheitsbehörden, aber auch insgesamt die Demokratie in Deutschland vor diversen Herausforderungen.
Dabei ist die erste von insgesamt drei, auf die wir uns konzentrieren möchten, die szenetypische Medienpraxis: Innerhalb der Reichsbürgerbewegung gibt es einzelne Individuen, die durch ihre mediale Arbeit besonders hervorstechen. Sie produzieren Videos für YouTube, posten regelmäßig auf Facebook oder verantworten einen Telegramkanal für eine Zuschauerschaft im teilweisen sechsstelligen Bereich. Die Inhalte bedienen verschwörungstheoretische Narrative und weisen oft eine antidemokratische Haltung auf.
Die Gastautoren
Leoni Heyn studierte Islamwissenschaft, Geschichte und Politikwissenschaft an der CAU Kiel.
In der Terrorismus- und Radikalisierungsforschung arbeitet sie seit 2021 für das Institut für Sicherheitspolitik Kiel zu salafistischer und neu-rechter (Online-)Radikalisierung.
Seit 2022 lehrt und promoviert sie an der CAU zusätzlich zu digitalen Netzwerken extremistischer Regierungsfeindlichkeit im Kontext der Querdenken- und Reichsbürger-Bewegung.
Felix Neumann ist Referent für Extremismus- und Terrorismusbekämpfung in der Abteilung Internationale Politik und Sicherheit der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS). Er studierte War and Conflict Studies an der Universität Potsdam und beschäftigt sich bei der KAS seit 2022 mit jeglichen Formen der Extremismusforschung, wobei der Schwerpunkt seiner Arbeit auf der Reichsbürgerbewegung liegt.
Sicherheitspolitische Fragestellungen sind eines der Schwerpunktthemen der Konrad-Adenauer-Stiftung. Insbesondere der Arbeitskreis Terrorismus und Innere Sicherheit, bestehend aus 25 Expertinnen und Experten, konzentriert sich auf Entwicklungen und Herausforderungen.
Nicht nur deswegen, sondern auch, weil es sich um eine größere Anzahl von Akteuren handelt, die beinahe täglich desinformativ und post-faktisch über das (politische) Weltgeschehen berichten, kann man von einem alternativen Mediensystem sprechen. Die darin geteilten Videos, Bilder oder schriftlichen Beiträge bauen unterbewusst, aber von den Betreibern der Kanäle gezielt forciert, ein Freund-Feind Bild auf, welches vor allem gegen Eliten wie Politikerinnen und Politiker Hass schürt. Auf Telegram schreibt beispielsweise ein einschlägiger Kanal am 19. Februar 2024: „(…) Es wird jeden Tag schlimmer! Schau doch was diese „Faeser-Hexe“ gerade abzieht! Hier auf deutschem Boden gibt es keine Rechtsnormen mehr. Hier herrscht reiner Nazi-Faschismus! Meiner Meinung nach können uns nur noch Trump und Putin retten und das Deutsche Reich wieder aktivieren. (…)“
Solche Aussagen illustrieren nicht nur die demokratiefeindlichen, verschwörungstheoretischen und geschichtsrevisionistischen Narrative der Bewegung. In dem gezielten Versuch, sie subtil in den allgemeinen politischen Diskurs zu streuen und dort langfristig zu verankern, bedrohen solche Inhalte unsere Demokratie von innen heraus.
Dass dabei die Grenzen zwischen der digitalen und analogen Welt teilweise fließend sind, verdeutlicht die zweite Herausforderung: Durch eine verbreitete Waffenaffinität geht von der Szene gleichermaßen eine erhöhte Gefahr für das physische Wohl von Menschen aus. Seit 2016 werden Reichsbürger bundesweit vom Verfassungsschutz beobachtet. Grund dafür war der Mord an einem Polizisten im bayerischen Georgensgmünd durch Wolfgang P. Als sich Sicherheitskräfte zur Beschlagnahmung seiner 31 Waffen, nach Entzug seiner waffenrechtlichen Erlaubnis, Zugang zu dessen Haus verschafften, eröffnete er das Feuer.
"Polizeikräfte erfahren bei Demonstrationen regelmäßig Beleidigungen oder werden körperlich angegangen"
Tätliche Übergriffe oder Gewaltandrohungen sind durch Anhängerinnen und Anhänger der Szene keine Seltenheit. Bereits im Jahr 2018 verzeichneten die Sicherheitsbehörden 776 Straf- und 160 Gewalttaten. Aber innerhalb von vier Jahren verdoppelte sich dieser Wert nahezu auf 1358 Straf- und 286 Gewalttaten.
Unsere ersten beiden Aspekte verdeutlichen dabei eins ganz deutlich: Vor allem staatliche Vertreterinnen und Vertreter sind von diesen Drohungen sowie Angriffen sowohl online als auch offline besonders betroffen. Polizeikräfte erfahren bei Demonstrationen regelmäßig Beleidigungen, sie werden bespuckt oder sogar körperlich angegangen. Angehörige von Jobcentern, Inkassogesellschaften oder Ordnungsämtern erfahren im persönlichen Umgang gleichermaßen aggressive Verhaltensweisen, werden teilweise gefilmt oder fotografiert und anschließend in entsprechenden WhatsApp- oder Telegramgruppen mit Klarnamen bloßgestellt. Auch dies ist für Betroffenen eine ungemein große psychische Belastung, da in entsprechenden Gruppen hunderte oder gar tausende Menschen Mitglied sein können.
Die dritte Herausforderung geht mit dem Trend einer steigenden Trennschwäche extremistischer Phänomenbereiche einher. Wenn die Grenzen zwischen verschiedenen Formen des Extremismus verschwimmen, wird es einerseits für die demokratische Zivilgesellschaft und andererseits für Sicherheitsbehörden schwieriger, sie klar zu identifizieren. Für vulnerable Gruppen kann dies die Anfälligkeit erhöhen, für Sicherheitsbehörden eine angemessene Reaktion erschweren.
Hinzu kommt, dass die Reichsbürgerszene stark heterogen ist, so dass bereits zahlreiche ideologische und personelle Überschneidungen vor allem zum Rechtsextremismus bestehen. Spätestens seit der Covid-19-Pandemie ist zudem eine starke Vernetzung mit Anhängerinnen und Anhängern der aus den USA stammenden Verschwörungstheorie QAnon sowie des neu geschaffenen Phänomenbereichs „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ zu beobachten. Interaktionspunkte sind und waren gemeinsam organisierte (Demonstrations-) Veranstaltungen, Chat-Gruppen, personelle Überschneidungen auf „Führungsebene“ und das Feindbild Regierung.
Ein Beispiel: Der Mitbegründer der Querdenken-Bewegung Michael B. stand nicht nur bereits zu Beginn der Pandemie mit dem selbst ernannten König des „Königreichs Deutschland“, Peter Fitzek, persönlich in Kontakt. Vielmehr forderte er 2020 auf einer Demonstrationsrede die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. So bediente „Querdenker“ Michael B. reichsbürgertypische Argumentationslinien, da Reichsbürger die Legitimität des Grundgesetzes nicht anerkennen.
Das Gefahrenpotenzial der Reichsbürger ist vielfältig und noch dazu im Wandel. Genau aus diesem Grund benötigt es einen holistischen Ansatz, der die Gesellschaft, die Politik und die Medien mit in die Verantwortung nimmt. Die Gefahren, welche durch die Reichsbürger-Szene entstehen, dürfen weder von Politik noch Medien heruntergespielt oder gar ins Lächerliche gezogen werden. Vielmehr müssen sie, als das formuliert benannt werden, was sie sind: Eine Gefahr für unsere Demokratie, sowie die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes.
"Bei Reichsbürgern handelt es sich nicht um ein lokales Phänomen, sondern um gut vernetzte Akteure"
Die Sicherheitsbehörden sollten auf dem Erfolg der Razzia gegen die Gruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß aufbauen. Bei Reichsbürgern handelt es sich nicht um ein lokales Phänomen, sondern um länderübergreifende und gut vernetzte Akteure. Eine konsequente Zusammenarbeit der entsprechenden Landesämter für Verfassungsschutz sowie der einzelnen Polizeibehörden mit einem regelmäßigen Austausch auf Bundesebene ist eine zwingend notwendige Grundlage des effizienten Umgangs mit Reichsbürgern.
Dennoch: Die zunehmende Verlagerung der Bedrohungslage in die digitale Sphäre nimmt zunehmend auch uns als demokratische Zivilgesellschaft in die Pflicht. Es braucht Mut, um demokratiefeindlichen Aussagen auf der Straße wie auch im Netz zu begegnen. Aber wenn wir gemeinsam und unermüdlich Position gegen strategisch platzierte Desinformation und extremistische Narrative beziehen, können wir einer Normalisierung dieser Positionen entgegenwirken.
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