Mannheim. Vor genau 14 Tagen sprach ich auf dem Ehrenhof des Mannheimer Schlosses zur Feier unserer Demokratie über unser Grundgesetz, über Menschenwürde und Gleichheit und über Europa. Dieser Artikel sollte diese Rede im Wesentlichen wiedergeben.
Dann wurden unsere Stadtgesellschaft und das ganze Land am letzten Wochenende erschüttert durch einen unerträglichen, mörderischen Angriff. Der Tod des jungen Polizisten Rouven L. lässt niemanden unberührt, der bereit ist, mit anderen mitzufühlen. Rouven L. wurde ermordet im Dienst und im Einsatz zum Schutz von Menschen und im Einsatz für eines der wichtigsten Grundrechte unserer Demokratie: die Meinungsfreiheit. Dies und das zu vermutende islamistische Motiv führen zu einer politischen Diskussion, der wir uns nicht entziehen können. Dennoch: Sie sollte das Gedenken und die Trauer um Rouven L. nicht überdecken; sie sollte uns eher nach Orientierung suchen lassen, als in bekannte Sackgassen zu laufen.
Leitplanken und Ideen des Grundgesetzes müssen in der Krise Orientierung bieten
Dabei können und müssen die Leitplanken und Ideen unseres Grundgesetzes, der Demokratie, der Menschenrechte, des Rechtsstaats und Europas gerade in einer solchen Krise Orientierung geben. Denn Hassverbrechen sind ein absichtsvoller Angriff auf die offene Gesellschaft, auf ein friedliches Zusammenleben, auf die Demokratie. Sie sind eine Bewährungsprobe für die Gesellschaft, die ihre Balance verlieren soll. Ihr Ziel ist es, neuen Hass zu erzeugen; den Nachweis zu führen, dass wir in einem Kriegszustand mit anderen leben bzw. einen solchen Zustand herbeizuführen. Die richtigen Antworten auf solche Angriffe finden wir nur, wenn uns ihr Ziel bewusst ist und wir sie dieses Ziel nicht erreichen lassen.
Den Vätern und Müttern des Grundgesetzes und der europäischen Einigung war klar, dass Demokratie, Menschenrechte und Frieden durch Recht und Institutionen wie Parlamente, Gerichte und Regierungen gesichert werden müssen. Und ihnen war klar, dass diese aktiv verteidigt werden müssen. Für Carlo Schmid, der unsere Stadt 23 Jahre im Bundestag vertreten hat, und sicher als die prägendste Persönlichkeit für das Grundgesetz gesehen werden darf, bedeutete eine neue, wehrhafte Demokratie auch den „Mut zur Intoleranz gegenüber denen zu zeigen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen.“
Wir Deutschen hatten unverhofftes Glück
Diese Aufforderung wird erst jetzt, nach Jahrzehnten, aktuell. Denn wir Deutschen hatten unverhofftes Glück: Wir mussten die Wehrhaftigkeit der Demokratie Jahrzehnte lang nicht ernsthaft bemühen. Doch das darf uns den Blick nicht darauf verstellen, dass Wehrhaftigkeit notwendig ist.
Wehrhaftigkeit muss sich zeigen gegenüber allen, die Demokratie und Rechtsstaat bekämpfen. Dies gilt gegenüber denen, die nach einem Kalifat rufen, wie gegenüber denen, die den demokratischen Staat und die Gleichheitsidee des Grundgesetzes verachten. Sie stärken sich gegenseitig und inszenieren sich dabei als Opfer, wenn der Staat und die demokratische Gesellschaft sich gegen sie zur Wehr setzt.
Der Staat muss sichtbarer werden
Die Instrumente der Auseinandersetzung mit den Feinden der Demokratie sind dabei die gleichen – egal ob es sich um einen Angriff durch Menschen handelt, die hier geboren sind, oder um Menschen, die zugewandert sind: Es ist der Rechtsstaat mit seinen Möglichkeiten und die politische Auseinandersetzung. Dabei muss der Staat sichtbarer werden. Das Zutrauen in die Durchsetzungsfähigkeit des Rechts muss gestärkt werden. Andererseits muss uns bewusst sein: Eine offene Gesellschaft erscheint immer angreifbarer als autoritäre Regime. Im Innersten getroffen werden sie aber nur, wenn sie ihre eigenen Werte aufgeben. Das ist tatsächlich die größte Gefahr – und zwar gerade deshalb, weil zu viele Menschen diese Gefahr unterschätzen.
Der Gastautor
- Peter Kurz, geboren 1962, ist promovierter Jurist. Er war 16 Jahre lang Oberbürgermeister der Stadt Mannheim, über acht Jahre Bürgermeister für Kultur, Bildung und Sport und zuvor Verwaltungsrichter.
- 2023 kandidierte er nicht mehr als Oberbürgermeister.
- Im August 2024 erscheint sein Buch „Gute Politik – was wir dafür brauchen“ im S. Fischer-Verlag.
Sie unterschätzen die Gefahren, weil ihnen die Bedeutung der Demokratie für den Schutz vor Willkür, Rechtlosigkeit und Krieg nicht ausreichend klar ist. Und es fehlt ihnen oftmals an Verständnis dafür, was Demokratie wirklich bedeutet. Es fehlt an dem Bewusstsein, dass Demokratie mehr ist, als die Herrschaft der Mehrheit. Zur Demokratie gehört zwingend der Rechtsstaat, der dafür sorgt, dass nicht nur Minderheiten, sondern jede und jeder Einzelne Schutz genießt, und dass der Staat sich rechtfertigen muss.
Alle Bürgerinnen und Bürger haben die gleichen Rechte
Vor allem aber gehört zur Demokratie, dass alle Bürgerinnen und Bürger die gleichen Rechte und alle Menschen den gleichen Geltungsanspruch haben. Und das ist etwas, das uns alle bindet, nicht nur den Staat. Schon der parlamentarische Rat, der das Grundgesetz erarbeitete und 1949 verabschiedete, verstand „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ als eine Anforderung an alle.
Das ist exakt das, was Margot Friedländer in den einfachen Satz kleidet „Seid Menschen!“ Es ist zuallererst die Forderung, jeden anderen Menschen als gleichwertig anzuerkennen. Dies ist der archimedische Punkt der Demokratie. Dies ist die Begründung der Demokratie: Wir sind nicht deshalb Demokraten, weil dies den meisten Wohlstand garantiert. Wir sind Demokraten, weil Menschen gleichwertig sind.
Der Angriff auf die Demokratie verbindet sich nicht zufällig mit dem immer offener formulierten Angriff auf die Gleichheitsidee. Der Ausschluss von Menschen ist das Wesensmerkmal der Bewegungen, die aktuell Demokratie untergraben.
Soll eine Gesellschaft menschlich sein, muss die Gewaltfreiheit eingefordert werden
Wer die Gleichwertigkeit von Menschen verneint, zerstört den für ein soziales und gewaltfreies Zusammenleben erforderlichen Grundkonsens. Wer andere auf Grund ihrer Identität angreift, erniedrigt, verächtlich macht – weil sie Muslime sind oder weil sie keine Muslime sind oder weil sie Juden sind, eine bestimmte Hautfarbe, ein bestimmtes Geschlecht oder sexuelle Orientierung haben – , der wird nicht ausgeschlossen aus der Gemeinschaft der Demokraten: Er schließt sich selber aus! Er ist kein Opfer. Das gilt für diejenigen, die nach einem Kalifat rufen genauso wie für diejenigen, die sich „ihr Land zurückholen wollen“.
„Seid Menschen“ schafft ein Bewusstsein dafür, dass eine pflichtschuldige Distanzierung von Bedrohung und Gewalt nicht reicht! Wer Plakate hängt, dass man „nicht nur Plakate hängt“, wer den Kampf gegen „Gottlose“ befürwortet, droht offen und latent mit Gewalt, appelliert an die niedersten Instinkte. Wer sprachlich andere entmenschlicht, säht Gewalt.
Soll eine Gesellschaft menschlich sein, muss die Rhetorik der Ausgrenzung und Abwertung eingedämmt werden und Gewaltfreiheit konsequent und mit größtmöglicher Entschiedenheit eingefordert werden. Gewalt in der politischen Auseinandersetzung ist nicht zu rechtfertigen. Demokratie kann durch Gewalt nicht verteidigt werden: Gewalt zerstört Demokratie! Die politische Gewalt der letzten Tage in unserer Stadt dürfen wir nicht hinnehmen. Diese klare Haltung muss Demokraten von den Feinden der Demokratie unterscheiden. Und das beginnt bei der Sprache. Demokraten dürfen Entmenschlichung nicht befeuern.
Sprache der Ausgrenzung ist Alltag geworden
Leider ist auch innerhalb derer, die sich als Demokraten verstehen, eine Maßlosigkeit in der Sprache und Ausgrenzung Alltag geworden, die unsere Fähigkeit, wirklich zu diskutieren und gemeinsam Lösungen zu finden, untergräbt. Und damit auch die Demokratie selbst. Vor allem verwischt diese Art der Auseinandersetzung die Grenze zwischen Demokraten und denen, die Demokratie bekämpfen. Das muss aufhören.
„Seid Menschen“ kann auch hier eine gute Richtschnur sein: Geht es noch um die Auseinandersetzung mit Meinungen oder geht es um Ausgrenzung von anderen aus einer Gemeinschaft? Letzteres dürfen wir als Demokraten nicht tun, doch es ist längst verbreitete Praxis geworden.
Auf die schwer zu ertragenden Angriffe müssen wir reagieren. Demokratie und Menschenwürde verlangen nicht „die andere Wange hinzuhalten“. Demokratie und Menschenwürde verlangen aber, Hass nicht mit Hass und Ausgrenzung zu beantworten. Diesen billigen Erfolg dürfen wir den Angreifern nicht schenken. In der Krise gilt es, unsere Werte, unseren Zusammenhalt und die Institutionen zu stärken. Nationalismus, Ausgrenzung und weniger Demokratie waren noch nie Lösungen für gesellschaftliche Krisen. Sie werden als Medizin angepriesen, sie sind aber Gift.
Dies ist in diesen Tagen besonders relevant, weil mit der Zukunft der Europäischen Union nicht weniger als das größte zivilisatorische Projekt in der Geschichte zur Abstimmung gestellt wird. Es ist das Projekt, das am erfolgreichsten Menschenrechte, Demokratie und Frieden bewahrt hat. Genau das, worauf sich die Angriffe richten. Und auch wenn man Europa in diesen Fragen kritisieren kann, darf dies nicht den Blick verstellen, dass die Gefahren für diese Werte ohne ein geeintes Europa wachsen würden und nicht sinken.
Gerade in Zeiten größter Unsicherheit sollte unsere Antwort deshalb lauten, Demokratie und Menschenrechte in Europa zu stärken. Morgen ist dafür der Tag.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar So kann Mannheim nicht in Ruhe trauern!