Mannheim. Für das Ausland ist es das bekannteste Bauwerk Deutschlands, ein Begriff sogar vielen Kindern in aller Welt, als Vorbild für „Cinderella“, den berühmten Zeichentrickfilm von Walt Disney. Eine bauliche Meisterleistung des 19. Jahrhunderts auf einem Felsen, eine Ritterburg in den Alpen, das Mittelalter herauf beschörend, aber gerade mal 150 Jahre alt. Damit eine Ausgeburt von Kitsch für die einen, für andere, auch für internationale Experten aber, und dies seit zwei Wochen nun offiziell, Teil des Weltkulturerbes.
Undenkbar das Ganze ohne den Bauherrn, den Märchenkönig Ludwig II. Im Jahr 1864 besteigt der erst 18jährige den Thron Bayerns, einen der traditionsreichsten Europas. Doch er selbst hat wenig zu sagen, als an die Verfassung gebundener „konstitutioneller Monarch“. Nach der Kriegsniederlage gegen Preußen 1866 geht Bayern 1871 im von Berlin dominierten Deutschen Reich auf, verliert seine Selbstständigkeit.
Dieser Realität entflieht sein König, indem er sich seine eigene, eine schönere erschafft. Entflieht in die mittelalterliche Welt der Sagen und Ritter, versinnlicht durch die Musik Richard Wagners, zu Stein geworden in seinen Schlössern, als erstes und vielleicht am persönlichsten Neuschwanstein. Die Inspiration für dessen konkrete Gestaltung erhält er bei einem Besuch der Wartburg 1867.
Als im Jahr darauf sein Großvater stirbt, verfügt er auch über die Mittel; denn anders als kolportiert, finanziert Ludwig seine Schlösser „privat“ (wobei die Frage, inwiefern private Mittel einer Herrscherfamilie nicht auch der Ausbeutung von Untertanen entspringen, hier nicht erörtert werden kann).
Ein Schloss auf einem schmalen Felsen hoch in den Bergen
Als Standort für das Schloss wählt er einen, der abgeschiedener nicht sein kann: einen unzugänglichen Felsen über einer Schlucht. Ein Wahnsinnsprojekt, als wolle man den Kölner Dom auf eine Bergspitze setzen. 1869 wird der Felsen mit Dynamit plafondiert, so dass ein Plateau von 4.300 Quadrametern entsteht. Alles muss herauf geschafft werden. Per Dampfmaschine, einem Lokomobil, aus dem Tal nach oben gezogen. 465 Tonnen Marmor, 1.500 Tonnen Sandstein, 400.000 Ziegelsteine alleine in einem Jahr.
1869 die Grundsteinlegung. Fast zwei Jahrzehnte liegt hier fortan die größte Baustelle der Region. Täglich 200 Steinmetze, Maurer, Zimmerer sind hier tätig, in Spitzenzeiten, wenn der König wieder mal drängt, sogar 300. Zehn Stunden täglich, teilweise auch nachts, im Schein explosiver Karbonlampen, was auch schon mal zu Unfällen führt. Eigens für solche Fälle führt Ludwig eine Lohnfortzahlung für verletzte Arbeiter ein; Nachkommen von jenen, die bei der Arbeit zu Tode kommen, erhalten gar eine Rente. 39 Mal wird das notwendig, wenig für Großbaustellen jener Zeit. Ein Bauführer, Heinrich Herold, setzt sich 1875 selbst einen Pistolenschuss ins Herz.
Das Bauwerk wird aus einfachen Backsteinen errichtet, mit dem leuchtend hellen Kalk und Sandstein lediglich verkleidet, beim Innenbau Eisen verwendet, für die Wände etwa in der Tropfsteinhöhle Pappmache. Wie in einer Theaterkulisse.
Die Gestaltung im Inneren folgt einer ausgefeilten Dramaturgie mit dem wiederkehrenden Element des aufsteigenden Schwans, Wappentier der Schwangauer Grafen, aber auch Symbol der Reinheit. Eine Gralsburg, ausgeschmückt mit Szenen aus den Opern des von Ludwig geliebten Richard Wagner. Produkt einer Vision, phantastisch, bizarr, vielleicht auch verrückt.
Technisch jedoch ist Ludwig ein „early adapter“, denn diesbezüglich ist hier alles hochmodern: Zentralheizung, fließendes warmes Wasser, Toilettenspülung zu einer Zeit, als das Volk noch den Donnerbalken benutzt, die erste Telefonleitung Bayerns, auch wenn sie zunächst nur bis unten ins Dorf Schwangau reicht.
1873 ist als erstes Gebäude der Torbau fertig. Hier bezieht Ludwig ein Zimmer, einfach, Tisch und paar Stühle, Schlafstätte auf einer Pritsche. Das reicht ihm, denn direkt vor seinen Augen kann er seinen Traum wachsen sehen, die Bauarbeiten baufsichtigen. Und das tut er: Immer wieder reißt er nicht nur Pläne in Stücke, sondern auch bereits gemauerte Wände nieder. Ständig neue Wünsche, die Zeit kosten und Unsummen von Geld.
Die beiden zentralen Räume werden 1883 und 1885 fertig: Sängersaal und Thronsaal. Mit 27 mal 10 Metern ist der Sängersaal der größte Raum, errichtet nach Vorbild des gleichnamigen auf der Wartburg, mit Themen aus Lohengrin und Parzival. Der 20 mal 12 Meter große Thronsaal umfasst gar zwei Stockwerke, sakral anmutend wie die Gralshalle des Parzifal, überkommenes Gottesgnadentum verherrlichend. Der Boden ist mit 1,5 Millionen Natursteinchen das aufwendigste Mosaikwerk Deutschlands.
1884 wird der Palas fertig, der vierstöckige Wohntrakt. Ludwig wird ihn nur 172 Tage lang nutzen. Alleine. Nur ein Dutzend Bedienstete leben mit ihm auf der Burg. Auch Besuch hat er so gut wie nie, unter den Ausnahmen die österreichische Kaiserin Sisi. Doch Neuschwanstein ist auch nicht zur Repräsentation gedacht, sondern als privates Refugium, zum Träumen. Ein „Freundschaftstempel“ für Richard Wagner, der ihn jedoch nie sehen wird.
Im Schlafzimmer verhaftet und als unmündig abgesetzt
Mit der Zeit laufen die Kosten aus dem Ruder. Umgerechnet 100 Millionen Euro sind verbaut. Neue Kredite erhält der König nicht mehr, alte kann er nicht zurückzahlen. Ein König, der gepfändet wird _ für die Regierung undenkbar. Er muss weg.
Am 9. Juni 1886 wird er entmündigt, da hält er sich in Neuschwanstein auf. Am 10. Juni reist eine Regierungskommission an, um ihn absetzen. Ludwig lässt sie im Torhaus einsperren, doch sie kann sich befreien. Einen Tag später der zweite Versuch. Diesmal erfolgreich: Ludwig wird in seinem Schlafzimmer verhaftet und nach Schloss Berg am Starnbeger See verfrachtet. Dort kommt er am 13. Juni unter bis heute nicht restlos geklärten Umständen zu Tode.
Infos und Tipps zu Schloss Neuschwanstein
- In der Rezeption zeigt sich ein deutlicher Unterschied zwischen Deutschland und dem Ausland. Unter den Deutschen kommt Neuschwanstein in Umfragen über die beliebteste historische Location über Platz 19 nicht hinaus. Den meisten Deutschen gilt es als kitschig, trivial, kommerziell.
- Anders dagegen im Ausland: Hier ist Neuschwanstein das bekannteste Gebäude Deutschlands. Bei der internationalen Online Abstimmung über die „Neuen Sieben Weltwunder“ 2007 kam das Schloss auf Platz 8 und verpasste die Aufnahme nur knapp. In regelmäßigen Umfragen unter ausländischen Touristen in Deutschland rangiert es stets als beliebteste Destination. Vor allem für Japaner ist es der Höhepunkt jeder Europareise.
- Besucherzahlen . Bei der Gesamtzahl seit 1886 wurde 2005 die 50-Millionen-Marke geknackt. Der Jahresrekord lag 2013 bei 1,52 Millionen, brach mit Corona ein, erholt sich aber seither. Im Durchschnitt 6.000 täglich, an manchen Tagen bis zu 10.000.
- Besichtigung : Nur im Rahmen einer Führung möglich, die 35 Minuten dauert. Eintritt nur nach Vorbestellung online über www.hohenschwangau.de. Dabei wird eine Uhrzeit für den Besuch definitiv festgelegt. Eintrittspreis: 23,50 Euro. Fotografieren im Inneren auch für eigene private Zwecke nicht gestattet.
- Anreise : Von Mannheim 335 km. Mit dem Auto 3,5 Stunden, per Zug 5 Stunden, mit einem Umstieg nach Füssen, von dort per Bus nach Schwangau, von dort zu Fuß oder in Pferdekutsche zum Schloss. -tin
Das Schloss ist damals noch ein Torso. Nur der Torbau und der Palas sind fertig, der Viereckturm und das Ritterbad im Rohbau. Einige Bauten werden fortgesetzt oder sogar neu begonnen, auf andere wie den Bergfried verzichtet. 1892 ist das Schloss in vereinfachter Form fertiggestellt.
Eigentlich verfügt Ludwig, dass kein Normalsterblicher dieses Gebäude je zu Gesicht bekommen soll. Doch schon sechs Wochen nach seinem Tode wird es von den Erben für Besucher geöffnet, für zwei Mark Eintritt, um die Kosten der Bauarbeiten zu decken. Noch im gleichen Jahr erscheint ein gemeinsamer Schlossführer für Neuschwanstein, Herrenchiemsee und Linderhof. Bereits in den ersten acht Wochen besuchen 18.000 Menschen das Schloss. Zunächst dürfen sie sich frei bewegen, sich auf die Stühle setzen; der Verschleiß ist entsprechend groß.
Mit Abschaffung der Monarchie auch in Bayern 1918 gehen die Schlösser in den Besitz des bayerischen Staates über. Und bleiben Ausflugsziel: Im letzten Friedensjahr 1939 besuchen rund 300.000 Menschen das Bauwerk. Den Zweiten Weltkrieg übersteht es unbeschadet, dank seiner abgeschiedenen Lage. Daher dient es als Depot für geraubte Kunstgegenstände aus Frankreich. Um ihre Rettung zu verhindern, plant die SS bei Kriegsende die Sprengung des Schlosses; ein SS-Offizier verschleppt die Ausführung des Befehls. Unversehrt gerät das Bauwerk daher am 28. April 1945 in die Hände der Amerikaner.
Fortan nimmt die Entwicklung zum Touristenziel so richtig Fahrt auf. Doch die Massen belasten nicht nur das Schloss, also Mobiliar und die Textilien, sondern auch die Infrastruktur der Region. Aber es ist auch ein Wirtschaftsfaktor. Für den Freistaat Bayern, der zwischen 1990 und 2010 rund fünf Millionen Euro in den Erhalt des Schlosses investiert, ist Neuschwanstein das einzige Schloss, das Gewinn macht. Sogar das einzige in Deutschland.
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