Mannheim. Die Wagen sind mit Girlanden geschmückt, dazu Fähnchen in den badischen und bayerischen Landesfarben. Mannheims Oberbürgermeister Otto Beck rühmt den „kraftvollen Bürgersinn, der in den deutschen Städten allmählich erwacht und heute hier einen hohen Triumph feiert“. Und dieser, so Beck, „willensstarke Bürgersinn möge in den beiden Schwesterstädten immer wachsen, blühen und gedeihen“, sagt er zum Auftakt von jenem Tag, der die „lebhaften und intimen Wechselbeziehungen zwischen Mannheim und Ludwigshafen verdichten und verstärken“ soll.
Es ist der 31. Mai 1902, und zu den Klängen der Kapelle des Badischen Grenadier-Regiments 110 fährt um 9.30 Uhr die erste elektrische Straßenbahn vom Mannheimer Hauptbahnhof über den Rhein zum Ludwigshafener Bahnhof. „Das zeigt, dass Ludwigshafen von Anfang an mitgedacht und einbezogen worden ist in das Nahverkehrsnetz“, betont Torsten Wondrejz, bei der Rhein-Neckar-Verkehr (RNV) für das Unternehmensarchiv zuständig. Mit Markus Roth vom Nahverkehrsmuseum depot 5 hat er sich intensiv mit der Geschichte der elektrischen Straßenbahn befasst, deren 125-jähriges Bestehen in Mannheim an diesem Wochenende gefeiert wird.
Denn in Mannheim fährt die „Elektrisch“ oder „Funkeschäs“ genannte Bahn bereits seit 1900. Aber sie ist nicht das erste Nahverkehrsmittel. Im 18. Jahrhundert dienen Sessel- und Sänftenträger, im 19. Jahrhundert Droschken und Pferdeomnibusse zum Transport von Fahrgästen, vor allem vom Bahnhof der 1840 eröffneten Eisenbahn zwischen Mannheim und Heidelberg in die Stadt und zurück oder von und zu den Schiffslandeplätzen.
Im Jahr der Reichsgründung, 1871, gibt es erste Versuche, eine Pferdebahn einzuführen. Aber die drei Unternehmer, die zunächst ihr Interesse bei der Stadt anmelden, lassen nichts mehr von sich hören, weitere Bewerber ebenfalls. 1875 beantragt der Direktor der „Luxemburger Tramway-Gesellschaft“, Charles de Feral, eine Konzession für eine Pferdebahn vom Bahnhof Ludwigshafen über den Paradeplatz zu den Neckargärten (heute Neckarstadt). 1876 wird sie ihm für 25 Jahre für zunächst zwei Strecken bewilligt, eine vom Bahnhof über die Planken zur Rheinstraße und Rheinpromenade, eine vom Paradeplatz („Pfälzer Hof“ in D 1) bis zur Neckarbrücke – also noch ohne Ludwigshafen.
Schon die Pferdebahn fährt bis nach Ludwigshafen
Charles de Feral gibt aber nicht auf, und am 30. Januar 1878 erteilt ihm der Bayerische König – die Pfalz gehört ja zu Bayern – die Erlaubnis. Am 2. Juni 1878 startet der Betrieb zweier Linien, eine vom Hauptbahnhof Mannheim über die Planken zum Rheintor, eine von der Neckarbrücke über Paradeplatz und Schloss zum Bahnhof Ludwigshafen. Feste Haltestellen gibt es nicht, der Stopp erfolgt auf Zuruf. „Man kann auf- und abspringen, da ist es auch zu Unfällen gekommen“, so Wondrejz. Die Neckarstadt wird erst mit Verzögerung 1880 einbezogen – weil es Befürchtungen gibt, dass die Ketten der Kettenbrücke (heute Kurpfalzbrücke) die Belastung durch Schienen und Wagen nicht schaffen.
Auch der Betrieb der Bahn über den Rhein ist aufwendig. „Vor der Auffahrt zur Brücke wurde ein zweites Pferd vorgespannt, dann auf der Ludwigshafener Seite ausgespannt und von einem Jungen wieder zurückgeritten“, weiß Wondrejz. „Vorspannbub“ nennt man die Jungs. Auf allen Strecken müssen die Pferde nach jeweils zwei Runden gewechselt werden. Der Aufwand ist also groß. Bis 1880 arbeitet Charles de Feral mit Verlust, und 1881 muss er wegen der grassierenden Pferdeinfluenza den Fahrbetrieb vier Monate lang reduzieren.
Veranstaltungen zum Jubiläum
Parade: Am Sonntag, 29. Juni, verkehrt eine Straßenbahnparade mit vielen Fahrzeugen aus unterschiedlichen Jahrgängen ab 1928 ab 12 Uhr für gut eine Stunde durch die Breite Straße und die Planken. Moderiert wird die Veranstaltung in Höhe des Paradeplatzes von Oberbürgermeister Christian Specht sowie Radiomoderator und Stadtbahnfahrer Jens Schneider.
Kostenlose Fahrt: Im Anschluss werden im 20-Minuten-Takt bis etwa 18.30 Uhr Fahrten mit historischen Fahrzeugen zwischen der Innenstadt und dem Betriebshof Möhlstraße angeboten, in welchem das Nahverkehrsmuseum depot5 ist.
Nahverkehrsmuseum: Das Nahverkehrsmuseum depot 5 in der Möhlstraße 31 ist am Sonntag, 29. Juni 13 bis 18 Uhr und sonst donnerstags von 15 bis 18 Uhr geöffnet. Da es ehrenamtlich betrieben wird, bitte vorher anmelden per E-Mail mail@depotfuenf.de.
Vortrag: Am Mittwoch, 1. Oktober sprechen Markus Roth und Torsten Wondrejz um 18 Uhr im Marchivum über „Mannheims Verkehrswende vor 125 Jahren“. pwr
Er hat daher gar nichts dagegen, dass sich Mitbewerber melden. Der Feudenheimer Ratsschreiber Martin Lutz etwa eröffnet 1884 eine Dampfbahn zwischen Feudenheim und Mannheim, die über die Eingemeindung 1910 hinaus bis 1914 verkehrt. Eine weitere Dampfbahn fährt, aber nur kurze Zeit, durch die Schwetzingerstadt. Herrmann Bachstein schließlich startet am 12. September 1887 Verkehr zwischen Mannheim und Weinheim der später nach Heidelberg ausgedehnt wird – der Vorläufer der späteren OEG.
Der Anfang vom Ende der Mannheimer Pferdebahn fällt auf den 1. Juli 1900. Da übernimmt die Stadt die Konzession von dem privaten Betreiber – mit dem schon 1897 beschlossenen Ziel, den Betrieb einzustellen. „Die Stadt ist zu jener Zeit enorm gewachsen, es gab das Bedürfnis nach mehr Mobilität und Modernität, die Arbeiter mussten in die neue entstehenden Fabriken kommen“, erläutert Wondrejz. Daher entscheidet sich die Stadt zur Elektrifizierung des Nahverkehrs. Vorreiter sind 1881 Werner von Siemens in Berlin und Frankfurt am Main 1884. „Mannheim war also nicht die erste Stadt, aber schon vorne dabei“, so Wondrejz.
Ein paar Monate läuft der Pferdebahn-Betrieb noch unter der Regie der Stadt. Aber parallel wird in enormem Tempo gebaut, denn es sind außer Oberleitungen auch überall neue Schienen notwendig. Die Pferdebahn war mit der Spurweite von 1435 Millimeter gefahren – wie Eisenbahnen. Für die neue „Elektrisch“ entscheidet man sich aber für die sogenannte Meterspur, also Gleise im Abstand von 1000 Millimeter – was bis heute gilt. Der Auftrag für die Lieferung der Gleise geht an die Georgsmarienhütte. 43 Kilometer Schienen soll sie herstellen. Weil sie ihre Lieferzeit überschreitet, muss sie mehr produzieren – und diese 4,3 Kilometer Gleise werden zusammen mit auf Vorrat bestelltem Material an Ludwigshafen abgegeben, damit die Stadt gleich einbezogen werden kann in das Netz.
Der „Generalanzeiger“ bejubelt das neue Verkehrsmittel als „markanten Punkt in der Entwicklungsgeschichte unserer Stadt“. Los geht es in Mannheim am 10. Dezember 1900, in Ludwigshafen 1902 – bis dahin läuft der rheinüberschreitende Verkehr noch per Pferdebahn. „Man hatte vorübergehend Mischbetrieb“, so Markus Roth. „Die Betriebsleitung liegt in Mannheim, auch für die andere Rheinseite“, hebt Wondrejz hervor. 30 Jahre lang heißt der Chef Ottokar Löwit (1864–1945), der zuvor die Baseler Straßenbahn auf Gleis gesetzt hat.
Für das neue Nahverkehrsmittel habe es „eine regelrechte Begeisterung in der Bevölkerung gegeben, denn man wollte damals etwas Modernes“, erklärt er. Sie wird als ein Zeichen des Fortschritts gesehen. Von Ablehnung ist ihm in den Akten nichts bekannt – im Unterschied zu anderen Städten, wo sich Widerstand gegen die Oberleitungen regt.
Mannheim fühlt sich wie das „klee Paris“
In Mannheim, das damals etwa 140.000 Einwohner zählt, werden dagegen Grußpostkarten mit dem Spruch „Ja, Leutcher, dess is halt viel werth, dass ma hier flott elektrisch fährt“ gedruckt. „Die Fremde glaawe ganz gewisse, dass Mannem ‚s klee Paris jetzt iss“, heißt es da stolz. Laut „Generalanzeiger“ wird „die ruhige Gangart der Wagen ohne Stoßbewegungen“ gerühmt. Kritik gibt es nur am Tempo von zwölf bis höchstens 20 Stundenkilometern, das manche Fahrgäste sich höher wünschen würden, und daran, dass die Fahrer so oft von der Glocke oder Fußschelle Gebrauch machen. Doch das hatte die Betriebsleitung ihnen vorgeschrieben - weil die „Elektrisch“ wegen des fehlenden Hufgeklappers leiser ist als die Pferdebahn.
Es gibt einen Fünf-Minuten-Takt mit meist einem Triebwagen, der in Stoßzeiten - auch nach Theateraufführungen – noch einen Anhänger erhält. Gezahlt wird nach Entfernung. Der günstigste Fahrschein kostet zehn Pfennige. Wer weniger als 1200 Mark pro Jahr verdient, darf vergünstigte Arbeiterkarten kaufen – die aber sonntags nicht gelten.
Auf unverglasten Plattformen stehen die Fahrer im Freien
Anfangs sind in Mannheim 80 Triebwagen und zwölf Beiwagen unterwegs, in Ludwigshafen 30 Triebwagen. Liefern darf ein Konsortium aus Siemens und BBC – die Schweizer Firma BBC gründet in Mannheim im Gegenzug zum Elektrifizierungsauftrag ihre deutsche Niederlassung. Weitere acht Pferdebahnwagen werden umgebaut, die anderen an andere Städte verkauft. Bequem darf man sich das aber nicht vorstellen. „Das waren unverglaste Plattformen, die Arbeitsbedingungen waren schwierig, gefahren wurde im Stehen im Freien“, beschreibt Markus Roth die Anfänge.
Doch die Nachfrage der Fahrgäste steigt. Bereits 1902 werden 11,5 Millionen Fahrgäste gezählt - 4,5 Millionen waren es im letzten Jahr der Pferdebahn. „Die ersten 20 Jahre gab es einen kontinuierlichen Netzausbau“, so Roth - analog zum ständig wachsenden Mannheim und seinen Eingemeindungen. Los geht es auf der Strecke Hauptbahnhof über Kaiser-, Friedrichs- und Luisenring zur Rheinstraße, von dort weiter zum Wasserturm, sieben Tage später kommt die Trasse durch die Neckarstadt von der Friedrichsbrücke zur Hansastraße hinzu, 1901 dann geht es weiter zur Diffenestraße, zur Rheinstraße und auf dem Abschnitt Tattersall-Schlachthof sowie zwischen Friedrichsbrücke und Paradeplatz und wenige Wochen weiter zum Schloss. Auch auf dem Abschnitt Lindenhofüberführung bis Gontardplatz sowie zwischen Jungbusch und Marktplatz verkehrten dann Wagen. Und weil der Paradeplatz das Herz des neuen Netzes wird, siedeln sich da die großen Kaufhäuser an – und die Grundstückspreise steigen.
Ab 1901 wird als erster Betriebshof die „Wagenhalle“, wie es offiziell heißt, in der Collinistraße genutzt – ein prunkvoller Jugendstilbau mit Türmchen, der 1971 für das Collini-Center abgerissen wird. 1913 folgt als zweiter Betriebshof einer in der Hohwiesenstraße, 1905 und 1010 werden Wagenhallen in Ludwigshafen errichtet und 1927 die in der Augartenstraße. Das Depot 5 ist Keimzelle des heute noch bestehenden Betriebshofs Möhlstraße – und daher auch Namensgeber des Nahverkehrsmuseums „depot 5“.
Der Streckenausbau setzt sich bis 1933 fort. Nur der Anschluss des neuen Stadtteils Gartenstadt scheitert an zu hohen Kosten wegen der nötigen Querung der Bahnlinie. Statt einer Straßenbahn fährt daher ab 1928 in die Gartenstadt Mannheims erste Omnibuslinie, 1930 gefolgt von der Tour zum Strandbad. Erst 2016, mit der Stadtbahn Nord, erhält die Gartenstadt Gleisanschluss. Schienen auf den Lindenhof, nach dem Zeiten Weltkrieg zunächst nicht wieder repariert und dann gar demontiert, kommen erst wieder 1995 durch die neue Linie nach Neckarau im Zuge des Konzepts „MVG 2000“. Die Strecke in den Hafen, die im Zweiten Weltkrieg auch zerstört wird, ist bis heute nicht mehr Teil des Straßenbahnnetzes.
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