Kolumne #mahlzeit

Wie der Schrei des kleinen Kindes meine Nachruhe stört

Darf man ein kleines Kind nachts schreien lassen, damit es das Einschlafen lernt? Alya ist kurz vor dem Nervenzusammenbruch, weil sie wegen ihrer Tochter Elin nicht schlafen kann - aber sie wehrt sich gegen gute Ratschläge

Von 
Stefan M. Dettlinger
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© kako

In letzter Zeit habe ich immer wieder den gleichen Alptraum. Es ist übel. In dem Traum brüllt ein kleines Kind wie am Spieß, ein Kind, das alleingelassen wurde von den Eltern, das Hunger und Durst hat oder eingekotet ist. Doch keiner ist da. Das Kind ist mutter- (oder vaterseelen)-allein. Es ist grausam. Ich sehe ein weit aufgerissenes Mäulchen und höre gellendes Geschrei. Danach kann ich nicht mehr schlafen. Schluss.

Damit eines gleich klar ist: Ich habe keinen Dachschaden oder so. Ich habe als Kind von allem immer genügend bekommen. Essen. Trinken. Windeln. Auch Liebe war dabei, wenn ich meinen Geschwistern und Kindheitsfotos glauben kann. Sie nährte mich am meisten. So weit ich weiß, haben mich meine Eltern nie lang brüllen lassen. Aber weiß ich es wirklich?

Ich habe mich gefragt: Warum träumst du von einem verlassenen schreienden Kind, obwohl dir der Teufel oder Voldemort nicht begegnet sind? Und da fiel es mir ein. Ich hatte einige Tage vor diesen Träumen mit der frischgebackenen Mutter Alya gesprochen. Sie hatte von ihren kurzen Nächten erzählt, vom vielen Schreien ihrer Tochter, dass sie ja ganz allein sei mit dem Problem und dass ihr Lover (dessen Namen ich mir nie merken konnte) nichts davon wissen wolle und sie nun kurz vor dem Nervenzusammenbruch stünde. Ich hatte Alya gefragt: „Und nun?“ Sie hatte gestöhnt und gemeint, ihre Freundin habe ihr ein Buch gegeben.

„Ich lese das Buch jetzt. Aber ich spüre, wie sich alles in mir gegen die Ratschläge in dem Buch sträubt. Ganz komisch irgendwie“,hatte sie gesagt. Und dann erzählt sie, dass „Jedes Kind kann schlafen lernen“ (so heißt wohl das Buch) empfehle, die Kinder ab einem bestimmten Alter in Intervallen schreien zu lassen. Nachdem, was Alya erzählt hatte, stelle ich mir das so vor, dass man das Kind zu Bett bringt, küsst, Gute Nacht sagt und dann rausgeht. Ich wechsle mal in den Protokollstil: Kind brüllt. Alya lässt Kind fünf Minuten brüllen, geht wieder zum Kind, streichelt es, sagt Gute Nacht und geht. Kind brüllt. Alya lässt Kind sieben Minuten brüllen, geht dann wieder zum Kind, streichelt es, sagt Gute Nacht und geht. Kind brüllt. Alya lässt Kind zehn Minuten brüllen, geht dann wieder zum Kind, streichelt es, sagt Gute Nacht und geht. Kind brüllt. Alya lässt …

„Ich werde das nicht können, auch nicht in vier Monaten“, hatte Alya zu mir gesagt und ganz zart hingehaucht: „Arme kleine Elin.“ Die Autoren des Buchs (Ich habe recherchiert: Annette Kast-Zahn und Hartmut Morgenroth) seien sicherlich vom Fach, aber sie, Alya, müsse doch auf ihr Gefühl hören, und sie bringe so etwas sicher nicht übers Herz. Außerdem: „Wer sagt mir, dass da am Ende nicht die weibliche Ausgabe eines gefühlskalten Adolf, Wladimir oder Recep Tayyip herauskommt, die als Kinder sicherlich allesamt zu wenig Liebe erfahren haben?“

Ich kann Alya nicht helfen. Offenbar ist sie ja auch gegen Spezialistenrat resistent. Hingegen brauche ich bald Hilfe, denn die Schreie in meinen Träumen und nächtlichen Wachphasen hören nicht auf. Gibt es eigentlich auch ein Buch mit dem Titel: „Jeder Mann kann schlafen lernen“?

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