Wer Caro mal beobachtet, ohne dass sie es mitkriegt, sieht eine etwas einsam wirkende Frau, kurzes, rotblondes Haar und messerscharfer Blick, die – man sieht förmlich den Geist wabern – viel über den Zustand der Welt nachdenkt. Manchmal schaut sie auf ihr Telefon. Manchmal runzelt sie jäh die Stirn, und man fragt sich: Was ist denn jetzt schon wieder? Irgendwie tut sie mir ja leid in ihrem selbst gemachten Korsett eines Kratzbürstendaseins, aus dem sie nicht rauskommt. Ob sie auch Momente des Glücks hat?
Natürlich komme ich aus der Deckung. Ich räuspere mich, sie dreht den Kopf, und ich frage: „Was ist?“ Ob ich schon lange da sei, fragt sie und sagt, sie habe gerade von Alya und ihrer Tochter Elin eine Nachricht bekommen, mit der sie Caro am Samstag zum Fernsehen einladen: Eurovision Song Contest wolle sie schauen. „Die mag mich wirklich nicht.“
Ich bin echt kein Fan des ESC, im Gegenteil: Was dort erklingt, ist geeignet, mich fix ins Grab zu bringen. Ich meine: Für geschulte Ohren sind die Songs dort nichts anderes als wuchtige Watschen. Aber Jesus hat ja mal gesagt: Liebet eure Feinde! Also versuche ich, den ESC zu lieben und die Sache aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Politisch. Vielleicht hat der ESC etwas von europäischem Verstehen, ist ein Medium, durch das die Kulturen und Völker miteinander kommunizieren. Vielleicht ist er ein riesiger Resonanzraum simultanen Erlebens, den es sonst nur noch zur Fußball-EM gibt. Nicht, was man in dem Resonanzraum erlebt, ist wichtig, sondern dass man es mit Hunderten Millionen zur selben Zeit erlebt. Ich sage: „Vielleicht kann auch das gleichzeitige Leiden am schlechten Geschmack eine völkerverständigende Maßnahme sein.“
„Quatsch“, sagt Caro, „wenn du wissen willst, wie sich der ESC-Karneval aufs Europafeeling auswirkt, denke an 2014.“ Äh. „Conchita Wurst“, so Caro, „die ist am Ukrainekrieg schuld.“ Wie bitte? Caro betreibt Erinnerungskultur. Sie sagt, dass, als Conchita Wurst 2014 gewonnen hat, russische Polit-Idioten in der bärtigen Frau den Untergang Europas gesehen, sich in der Annexion der Krim bestätigt gefühlt und angekündigt haben, Gebiete, aus denen Russland nach der Perestroika abgezogen war, wieder einnehmen zu wollen. Caro: „Die wollen der dekadenten Blasphemie des Westens endgültig ein Ende setzen.“
Das klingt lustig, sollte aber eher unheilvoll prophetisch verstanden werden. „Mann, kapier’ doch: Das ist kein Event der schönen Künste, sondern ein Austragungsort des Krieges zwischen Kulturen. West gegen Ost. Pop gegen Schlager. Queer gegen Querköpfigkeit. Ein Battle of the Systems.“ Ich sage, dass der ESC doch nichts dafür könne, wenn ihn Politsystematiker instrumentalisierten. Daraufhin verfällt Caro wieder in ihre Grundposition des wabernden Geistes.
So, jetzt habe ich dem ESC aber genug Liebe entgegengebracht. Ich stelle um auf Liebesempfang. Ich will, dass ganz Europa singt: „Alle Menschen werden Brüder … Rettung von Tirannenketten … Großmut auch dem Bösewicht …“ Ein bisschen Anspruch täte ja gut.
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