Neulich, der Himmel sei in bleiernes Grau gehüllt gewesen, habe er, so Bela, bei einem Kaffee zu Caro gesagt, ihm sei fast das Frühstück hochgekommen, als er das Bild von Wladimir Putin und Xi Jinping in der Zeitung gesehen habe und wie sie despotisch unter den Augen strammstehender Funktionäre durch den frisch gewichsten Kremlpalast stolziert seien. Karl Marx, habe er zu Caro gesagt, so Bela, hätte ganz sicher mitgekotzt. Seine Rede habe er so beendet: „Die ändern sich nie!“
Ich denke, ich muss hier nicht erwähnen, dass eine Krawallnudel wie Caro so einen Satz als Assist versteht und Torhunger spürt. Dazu verlasse ich jetzt die doppelte indirekte Rede (die mir selbst auf Dauer eh auf die Nerven geht). Kurzum, Caro hat zu Bela gesagt: „Du änderst dich und dein Leben und deinen Konsum und dein widerliches Porsche-Fahren und Luxus-Klamotten-Tragen doch auch nicht. Obwohl. Das. Dringend. Nötig. Wäre. Wenigstens haben die beiden eine Vision.“ Danach sei er still gewesen, so Bela, der nur noch trinken konnte.
Dass wir uns alle nicht ändern, obwohl wir müssten, ist ein Problem, denke ich. Caro hat Recht, denn sie meint ja: Uns fehlen Visionen, denn philosophische und staatstheoretische Visionen à la Platons „Politeia“, wie ein gerechteres und ökologischeres Leben in Sozialeinheiten planetar organisiert werden könnte – sie gibt es entweder nicht, oder der FBI hält sie unter Verschluss.
Gott, bevor er von Typen wie Nietzsche für tot erklärt wurde, hatte wenigstens für Visionen gesorgt. Abraham. Josef. Mohammed. Alle hatten eine. Aber die Aufklärer haben Gott durch Vernunft ersetzt und, na ja, die letzten großen Sozialvisionen führten zu Stalin und Hitler. Sozialismus. Nationalsozialismus. Daher auch unsere Angst vor Vision und Utopie. Es ging einfach schief. Nun reden sie von Postwachstum, freier Planwirtschaft oder Metaverse, was ich mir ein bisschen vorstelle wie Keanu Reeves als Neo in „The Matrix“ – ein Abenteuer im Schlaf bei schlaffer Muskulatur.
Verdammt, ist denn hier keiner, der mal träumt und mit der Vision aufwacht, wie es auf diesem Ball weiter gehen könnte? Denn so, wie’s ist, geht’s nicht mehr, da wird keiner widersprechen. Vielleicht ist es auch so, dass ein Blick in die Zukunft immer schwieriger wird, je größer die Vergangenheit ist. Der Mensch schreibt seit etwa 5000 Jahren. Das ist schwerer Ballast. Und vielleicht hat auch die Menschheit einfach ihre Lebenserwartung schon überschritten und ist längst 101 – und mit 101 ist dein Hirn verdammt noch mal (bestenfalls) voller Erinnerung, aber ohne Vision für die Zukunft – außer der eines schmerzlosen Todes vielleicht. Eine Vision darf sich nicht von der Logik des Gegebenen und Gewesenen herleiten. Sie muss die Grenze der Realität überschreiten. Sie ist. Wie Kunst.
Bei all dem beschleicht mich eine böse Ahnung: Die Vision betreibt Prokrastination. Anstatt sich aus ihrem Loch raus zu schaffen, findet sie immer einen Grund, dies nicht zu tun. Wahrscheinlich kocht sie gerade Kaffee, macht ein Videospiel oder treibt sich bei Twitter rum, statt ihren Job zu machen und Licht zu machen …
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