Gebrochene Lebenswege stehen im Mittelpunkt von Ulrike Draesners neuem Roman „Die Verwandelten“. Über mehrere Generationen hinweg versucht die 61-jährige Schriftstellerin die biografischen Scherben ihrer weiblichen Figuren wieder zusammenzusetzen und deren wahre Identität zu rekonstruieren.
Zu Beginn der Handlung reist die Juristin Kinga Schücking zu einem Vortrag nach Hamburg. Sie ist geschieden und Anfang 60: „Ich war eine Spätmutter, eine Wiederberufseinsteigerin auf Spätmutterbasis, eine Frau, die ihr Kind allein ließ.“ ,Spätmutter’ heißt in diesem Fall, sie hat eine noch junge Adoptivtochter, die ihre Mutter und eine Besucherin mit einer heiklen Frage konfrontiert, als die fremde Donata auftaucht: „Warum siehst du wie Mama aus?“
Suche nach biografischen Wurzeln
Schnell erfahren wir, dass im Zentrum dieses großen, unterschiedliche Lebenswege rekonstruierenden Romans die Suche nach den biografischen Wurzeln steht. Verwandte, die durch Adoptionen (vor allem auch durch Zwangsadoptionen während der NS-Zeit) aus den Lebenswegen verschwunden sind, nähern sich einander an. Nach und nach erschließt sich wie ein riesiges Puzzle auch die Vorfahrengeschichte der Juristin Kinga. Ihre Mutter Alissa war von einem stramm nationalsozialistischen Paar adoptiert worden und hatte sich an ihrem Lebensabend in Wroclaw auf die Suche nach ihren schlesischen Wurzeln gemacht und aus dieser Zeit ihrer Tochter eine Wohnung vererbt.
Wie eine Archäologin fügt Draesner nach und nach biografische Fragmente zusammen. Es taucht eine Polin namens Walla Dombrowska auf, eine Stiefschwester von Alissas Mutter, die einst Renate (Reni) hieß und am Kriegsende vor den heranrückenden Russen mit ihrer Mutter aus Breslau Richtung Westen geflohen ist und unsägliche Gewalt erdulden musste.
Deutsch-polnische Familiengeschichte
Aus spezieller Frauensicht ist eine deutsch-polnische Familiengeschichte über drei Generationen hinweg entstanden. Die Autorin wechselt dafür auch die Erzählperspektive und die Zeitebenen. „Ich war Walla, Reni ein Teil meines Körpers mit den Narben und der deutschen Stimme, umschlossen von einer starken polnischen Frau“, resümiert Alissas Stiefschwester, die nach Kriegsende zurück nach Breslau ging, das fortan Wroclaw hieß, dort eine neue Identität annahm, viele Jahre einen Kiosk betrieb und Mutter von vier Kindern war.
Mütter und Töchter, denen der Lauf der Geschichte übel mitgespielt hat und die in ihren Familien „kleine Geheimnisse“ bewahrten, haben die Suche nach ihrer Identität zur Lebensaufgabe gemacht. Ein schmerzhafter, einschneidender Prozess, der hier durch wechselnde politische Systeme, durch den Wechsel der Kultur und Sprache in Breslau und von Animositäten zwischen Polen und Deutschen begleitet wurde.
Werk über Schweigen und Verschweigen in Familien
Dieses große, empathische literarische Geschichtsbuch, diese so einfühlsame biografische Puzzlearbeit über das Schweigen und Verschweigen in den Familien bezieht seine Strahlkraft aus Ulrike Draesners großer sprachlicher Virtuosität. Sie beherrscht die Naturmetaphorik ebenso wie die lakonische Präzision: „Gebrochen gesprochene Sprachen. Weitergegebene Schamsprachen. Weitergegebene Angstsprachen. Nicht bewusst weitergegebene Erinnerungen“, heißt es in der Mitte des Romans so treffend.
Das klingt hart, das klingt bedrohlich und lässt an viele zerbrochene Seelen denken. Aber Ulrike Draesners letzter Satz des Romans klingt beinahe versöhnlich und wie eine latente Botschaft: „Wenn jemand spricht, wird es hell.“
Info: Ulrike Draesner: Die Verwandelten. Roman. Penguin Verlag. 601 S., 26 Euro
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