In jüngerer Zeit veröffentlicht er mit erhöhter Frequenz. Ob Jürgen Theobaldy aber auch im erhöhten Maß Erzählungen und Gedichte schreibt, ist nicht ganz klar. Auf die Novelle „Mein Schützling“ (2023) folgte die Anthologie mit älteren und neueren Gedichten „Nun wird es hell und du gehst raus“, die im Frühjahr aus Anlass seines 80. Geburtstags erschien; jetzt ist ein neuer Band mit zehn Erzählungen von Theobaldy unter dem Titel „Bis es passt“ herausgekommen. Und auch nun wirken Passagen in den Texten des in Mannheim aufgewachsenen Schriftstellers, der seit 40 Jahren in der Schweiz lebt, so, als ob sie nicht jetzt oder vor Kurzem geschrieben worden wären.
Anders gesagt: Sie wirken fast zeitlos, überzeitlich, verankert noch in der Gegenwart, aber auch schon darüber hinaus. Wieder anders ausgedrückt, trägt Theobaldy bereits Züge eines literarischen Klassikers. Die Gegenwartsliteratur prägt und bereichert er seit einem halben Jahrhundert, eher vom Rand her freilich, denn zu den allerersten, den namhaftesten deutschen Autoren wurde er nie gerechnet. Und wahrscheinlich wäre ihm eine Positionierung im Rampenlicht unangenehm gewesen. Festlegen lässt er sich nicht gerne – und nicht leicht. Das zeigt sich auch daran, dass Theobaldy abwechselnd in immer anderen, immer kleinen deutschen und schweizerischen Verlagen veröffentlicht.
So schreibt er fort, der Autor Theobaldy, wortgewandt und stilistisch erlesen, souverän, ohne die Nase hoch in die Luft zu recken. Mal ironisch gebrochen, dann ganz ernst. Erdverbunden bleibt sein Schreiben immer, wenngleich er den Sozialrealismus seines frühen, in Mannheim spielenden Romans „Sonntags Kino“ natürlich längst hinter sich gelassen hat. Sein Schreiben wirkt dennoch zeitgeschichtlich verankert, egal ob er nun von Paarbeziehungen, die man selten so luzide analysiert erlebt, oder von sonderbaren Einzelgängern erzählt.
Große stilistische und thematische Bandbreite
Beides findet sich im neuen Band, der ebenso die stilistische und thematische Bandbreite Theobaldys vor Augen führt wie sein feines Sprachempfinden und die charakteristische Lust am Sprachspiel. Ganz wirklichkeitsnah erinnert sich da ein melancholisch gestimmter Ich-Erzähler an eine Jugendliebe oder wird von einem Paar erzählt, das erfahren genug ist, um zu wissen: „Es sollte nicht zu lange still bleiben zwischen ihnen.“ Innig sind sie, weit weg vom Alltag – und stellen auch grundsätzliche Fragen wie diese: „Weiß man, wovon man spricht, wenn man das Wort Natur ausspricht?“
Um Natur und Prinzipielles kümmerte sich auch der maßgebliche Physiker Albert Einstein. Theobaldy widmet ihm die Erzählung „Einstein getroffen“, die eine Hommage an dessen Schweizer Zeit ist, als er beim Patenamt in Bern arbeitete und die Grundlagen seiner Relativitätstheorie entwickelte. Der Erzählfluss ist hier schnell, entsprechend der Gangart der Figuren und der Geschwindigkeit, mit der sie Gedanken entwickeln und austauschen.
Im Jugendort Mannheim hat Theobaldy seine surreal angehauchte Erzählung „Ein Glücksfall“ angesiedelt. Ein Kind seiner Zeit ist die Hauptfigur: Heller heißt der Mann und betreibt eine gut laufende Agentur für Werbegrafik. Als er einen extravagenten Pullover kauft, kommt Bewegung in sein Dasein. Die Erzählung streift fortan sämtliche Lebensstationen der Hauptfigur, wobei der seltsam die Farbe ändernde Pullover gewissermaßen Hellers Selbstbilder repräsentiert – und ihn mit der Frage konfrontiert, ob er wirklich das Leben führt, das ihm gemäß ist.
Überhaupt das Leben: Verständlich wird es vielfach erst vom Ende her, wie Heller registriert. Und dieses Ende bildet erst recht in der fantastisch anmutenden Erzählung „Aus der Mitte von Irgendwo“ ein Zentrum. In einer „Kaschemme“ berichtet dem Erzähler ein zwielichtiger Gast von einem seltsamen Friedhof, wo die Verstorbenen noch aus der Erde ragen und sich aus ihren Reden ein Begriff vom Jenseits ergeben soll. Wie wirklichkeitsnah ist das noch? Es ist eher eine reine Kopfgeburt – so wie das, was danach der Text „Wie es mich durchströmt“ entfaltet.
Ein Sonderling hat sich politisch radikalisiert
Man liest hier den inneren Monolog eines Sonderlings, der sich politisch radikalisiert hat – oder „nur“ psychotisch wurde. Dass solches in der Schwebe bleibt, macht den Reiz des an Kafka, Beckett oder Bernhard erinnernden Erzählstücks aus. Da redet einer davon, dass alles anders werden müsse, weil sonst die ganze Welt den Bach hinunter ginge. Dem Kapitalismus misstraut er, den Medien, Politikern. Und er will eine Auslöschung als Kunstwerk inszenieren. Ist er rechts oder links, ein Querdenker, Reichsbürger? Vieles ist hier möglich; auch könnte der, auf den das redende Ich wartet, um ihn womöglich zu erschießen, nur er selber sein – und er sein eigener Feind.
Oft geht es in Theobaldys Erzählungen um die Kunst – darum, was sie ist, was sie unverwechselbar macht, wo doch alles naturwissenschaftlich erklärbar scheint. Auch im Einstein-Text geht es darum. Nicht nur die Zeit verrinnt und vergeht doch nicht. Dasselbe gilt für die Literatur. Die Dauer der Lektüre ist messbar, ihr Wert und ihre Bedeutung aber kaum. Ein Autor wie Theobaldy schreibt fort, um diese Bedeutung mit jeder Erzählung, jedem Gedicht mit Nachdruck zu unterstreichen. So wirkt auch sein jüngster Band nach und fort. Wie alle echte Kunst widersetzt sich auch dieses Buch der Vergänglichkeit und zeigt: Etwas bleibt ja doch.
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